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System mit Schatten
In Rudolf Thomes Film "Frau fährt, Mann schläft"
wird Beziehungsfeinarbeit geleistet
Wenn Tolstoi sich geirrt hätte, wäre Rudolf Thome wahrscheinlich
arbeitslos. "Glückliche Familien sind alle gleich; jede unglückliche
Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich", schrieb der
Autor von "Anna Karenina" vor mehr als hundert Jahren. Deshalb
ist es natürlich nur ein Witz, wenn sich die Familie Bogenbauer-Süßmilch
gleich zu Anfang von Thomes neuem Film als beispielhaft glückliche
deutsche Familie in eine9r Talkshow versammelt. Vier halbwüchsige
Kinder, die Mutter Zahnärztin, der Vater Philosophieprofessor, das
ist das telegene Glückssystem.Jenseits des Fernsehstudios ist es
ein System mit Schatten. Liebeskummer, mehrfacher Ehebruch, Schwangerschaft,
Tod. Thome braucht die Idylle für die Risse und die Risse für
die Beziehungsfeinarbeit. Seine Helden reißen die Risse auf, wenn
sie sie zu überdecken versuchen. Das ist so etwas wie das Lebenshandwerk
des gutsituierten Berliner Mittelstands, und Rudolf Thome ist seit fast
fünfundzwanzig Jahren dessen verläßlichster Chronist -
ganz ohne seelenquälerischen Ernst, so spielerisch, wie es die Namen
seiner Helden andeuten. Bogenbauer (Karl Kranzkowski) und Süßmilch
(Hannelore Elsner) heißen sie diesmal oder Sven Hedin, der Forscher,
der in die Ferne zieht und den Hanns Zischler mit der Selbstverständlichkeit
eines Stammgastes spielt, der in fast jedem Thome-Film wie von selbst
seine Rolle findet, mal im Zentrum, mal am Rand. Diese Namen erinnern
an Schelmenromane oder Märchen, obwohl es sich bei Thomes Filmen
eher um menschenfreundliche Menschenversuche handelt. Dazu paßt
es, wenn Zischlers Forscher das Gewimmel der Welt mit einem Ameisenhaufen
vergleicht und findet, daß es von oben aus doch ganz gut aussähe.
Thome arbeitet allerdings lieber in Augenhöhe. Sein Film zeigt den
zu Tode fotografierten Potsdamer Platz zwar nicht gänzlich neu -
aber als Teil von Thomes Welt. Er ist ein großer Eingemeinder, und
die schönsten Bilder des Films wirken nicht gesucht, sondern gefunden.
Nach dem Tod des ältesten Sohnes, nach dem Nervenzusammenbruch der
Mutter steht die Rumpffamilie im Wohnzimmer vorm Fenster - und wird auf
einmal zum Schattenriß. Thome führt solche Bilder nicht mit
großer Geste vor, sie scheinen sich einfach zu ergeben. Zugleich
ist er ein großer Entdecker und Wiederentdecker, vor allem von Schauspielerinnen.
Wenn man Hannelore Elsner bei Thome zusieht, kann das unmöglich dieselbe
Frau sein, die montags zur Prime time in der Endlosschleife ermitteln
muß.
Thome hat seine Zeitreisentrilogie, deren zweiter Teil "Frau fährt,
Mann schläft" ist, auch für sie geschrieben. Nicht als
Science-fiction, sondern als Exkursion in den Alltag. Menschen reisen
durch die Zeit, die ihr Leben ist. Das Vergangene kommt wieder, es löst
sich schmerzhaft ab, die Gegenwart verschwimmt, die Zukunft ist sprunghaft,
statt einfach nur die nächste Markierung auf der Zeitachse zu bilden.
Thomes Filme haben dabei immer etwas Unaufgeregtes, selbst dann, wenn
sie von Krisen und Katastrophen erzählen. Er verteilt seine Sympathien
gleichmäßig: mehr Mitleid für die Männer, mehr Bewunderung
für die Frauen. Thomes mittelalte Männer richten sich im Leben
ein wie in einem bequemen Sessel, sie inventarisieren ihr Glück.
Sie packen ihren Laptop aus und zeigen stolz Familienfotos wie in "Rot
und Blau", sie geben einem Talkmaster bereitwillig Auskunft übers
Glück wie Bogenbauer, als wäre die Zeit ein langer, ruhiger
Fluß. Den Frauen dagegen schlägt die lange Dauer aufs Gemüt.
Ihr Rhythmus heißt Umbruch, Aufbruch, Abbruch, Zusammenbruch. Und
wenn der Philosoph am Ende die neue Situation mit seinen alten Kategorien
bewältigen will, läßt seine Frau ihn spüren, daß
das Alte nicht mehr geht, auch wenn das Neue ihr selbst noch gar nicht
so klar ist.
Thome beherrscht dieses Spiel mit offenen Konstellationen wie kein anderer
im deutschen Kino. In seinen Filmen gibt es keinen großen Knall,
keine tränenselige Versöhnung, keine definitive Lösung.
Manchmal hat man das Gefühl, Thome wundere sich selbst, daß
und wie es immer wieder weitergehen kann. Dieses leise Staunen hat er
sich in mittlerweile 22 Spielfilmen erhalten. Die deutsche Filmförderung
interessiert ihn nicht mehr, weil sie ihn ignoriert. Preise braucht er
auch nicht, nur ein Publikumserfolg wie damals mit "Berlin Chamissoplatz"
wäre mal wieder ganz schön, sagt Thome.
Er hat seine Nische gefunden. Die ARD-Tochter Degeto finanziert im wesentlichen
seine Filme, und weil er ein schneller Arbeiter ist, würde er das
jahrelange Brüten über einem Projekt gar nicht aushalten. "Warten,
warten: das ist etwas, was ich überhaupt nicht kann" steht auf
seiner Website. Deshalb wartet er auch nicht auf seinen 65. Geburtstag
am 14. November. Er bereitet lieber seinen nächsten Film mit Hannelore
Elsner vor, Arbeitstitel: "Du hast gesagt, daß du mich liebst".
Frau spielt, Mann dreht. So kann's weitergehen.
Peter Körte in FAZ 04.11. 04
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Ehe ohne Szene
Hier muss das ganze Kino hindurch - Rudolf Thomes neuer Film "Frau fährt, Mann schläft"
Frau und Mann: ein paar. Sie, Sue (Hannelore Elsner) ist Zahnärztin
und hasst es, wenn Dinge sich verändern. Er, Anton (Karl Kranzkowski)
bekleidet einen Lehrstuhl für Philosophie an der FU Berlin, liest
sieben Tageszeitungen am Frühstückstisch und doziert über
den Tod als Grenzerfahrung der Zeit. Beide sind Mitte fünfzig, haben
vier Kinder im Alter zwischen 13 bund 18 Jahren: eine Familie, die als
"glücklichste Familie Deutschlands" bei einer kuriosen
TV-Talkshowzuliebe zieht man von einer Vorort-Villa in eine Stadtmitte-Wohnung
um. Zwischen den Umzugkartons sinniert Sue: "Ich kann mich nicht
entscheiden, was ich wegschmeißen soll und was nicht". Drauf
arglos belehrend Anton: "Ist doch ganz einfach. Was du in den letzten
zwei Jahren nicht einmal angefasst hast, kann weg".
Man ahnt, dass auch Anton selbst zu den besagten Dingen gehört. Risse
zeigen sich im Bild der zu Beginn idyllisch und fröhlich-boulevardesk
gezeichneten Familie. Mächtige Erschütterungen werden folgen.
Der älteste Sohn wird plötzlich schwer erkranken und sterben,
die Lebenslügen und lieblos-festgefahrenen Arangements des Paares
werden zusammenbrechen. Am Ende sitzen Sue und Anton im Auto, auf dem
Weg nach Italien: Frau fährt, Mann schläft. In Sardinien, am
Strand, sagt er noch einmal: "Ich liebe dich", und sie zieht
den Ehering vom Finger.
Ein englisches Ehepaar ist mit dem Auto in Italien unterwegs: Ingrid Bergman
fährt, George Sanders schläft. So beginnt Roberto Rossellinis
"Viaggio in Italia" (1953), und Rudolf Thomes "Frau fährt,
Mann schläft" ist nicht zuletzt eine Reminiszenz an diesen Film.
"Viaggio" war nicht nur für die jungen Autoren der Nouvelle
Vague leuchtendes Vorbild - Rivette: "Dieser Film öffnet eine
Bresche, durch die das ganze Kino hindurch muß". Thome hat
hier Prinzipien beschrieben, die für ihn das Kino definieren: Keine
Suche nach Perfektion, sondern nach Augenblicken der Wahrheit. Dinge und
Personen sollen nicht vorgefassten Vorstellungen unterworfen werden, sondern
sich so zeigen, wie sie von sich her sind. Der Blick darf eintauchen ins
Alltägliche, und die Erzählung soll von autobiografischen Erfahrungen
gespeist sein. Prinzipien des modernen Kinos, denen Thome von seinen ersten
Filmen bis heute treu geblieben ist. 1968 schrieb er: "Ich mache
Dokumentarfilme über Schauspieler, die Szenen aus einem Drehbuch
spielen." Ein Satz, der auch noch für "Frau fährt,
Mann schläft" gilt, wo ein Spiel eröffnet wird, das eigenen
situativen Impulsen folgt und dem Sich-Zeigen der Darsteller Raum gibt.
Aus solchen Autorenkino-Traditionen kommend hat Thome mit seinen Filmen
ein eigenwilliges Universum geschaffen, zu dem die Vorliebe für lang
durchgehaltene Plansequenzen ebenso gehört wie die Konzentration
auf ein Thema: die Liebe. Wie sie geheimnisvoll entsteht und sich gegen
alle Widerstände durchsetzen will, wie sie dem Verrat anheim fällt
und dann wieder angstvoll neu beschworen wird. Um der Leere ihres Ehe-Arrangements
zu entkommen, hat Sue begonnen, ihre Liebessehnsucht auf einen anderen
Mann: den Astronomen Sven Hedin (Hanns Zischler) zu projizieren. Als ihr
Sohn Thomas (Markus Perschmann) auf der Intensivstation liegt, gesteht
sie es Anton: "Ich liebe einen anderen Mann. Weißt du das?
Wir haben zu lange mit diesen Lügen gelebt. Vielleicht ist Thomas
deshalb krank geworden!"
Sue fühlt sich schuldig, erleidet einen Nervenzusammenbruch, und
als sie sich davon wieder erholt hat, findet der Film zu seiner schönsten
Passage. Ein Spaziergang durch den Hospital-Park, bei dem Sue die ganze
Geschichte des Paares aufrollt, von den grandiosen Zeiten der ersten Verliebtheit
bis zu den traurigen Ernüchterungen der späteren Jahre. Wunderbar,
wie Hannelore Elsner ihre Erzählung im Tonfall wehmütiger Erinnerung
hält. Kein Vorwurf wird erhoben, kein Streit entfacht. Erinnerung
an vergangens Glück, Trauer. In Momenten wie diesen findet der Film
ganz zu sich. Thome entwirft Szenen einer Ehe, bei denen keiner dem anderen
eine Szene macht. Umso größer das Erschrecken über das
Entschwinden einer Liebe. Umso deutlicher, dass die Liebe beim Mann nur
eine Suche nach Selbstbestätigungen und eine Flucht vor Einsamkeitsängsten
ist. Merkwürdig leer bleibt der soziale Umraum der Familie: keine
Parties, keine Besuche von Freunden, kein geselliges Leben. Stattdessen
Reflexionen über den Tod, über explodierende Sterne, über
das Leben als Ameisenhaufen, in den ein Stein geworfen wird. Angstbilder.
Ein Film über Trennung, Tod, Einsamkeit.
Rainer Gansera in Süddeutsche Zeitung, 04.11.2004
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Kraut
und Rüben
Das Leben läuft oft anders, als man es gern
hätte. "Frau fährt - Mann schläft" tröstet
mit der Botschaft: Auch Tragödien können Sinn machen
Eine der eindringlichsten deutschsprachigen Publikationen über das
Kino stammt von dem Filmemacher Rudolf Thome. Fast zwei Jahrzehnte ist
es her, dass er sein Buch über Roberto Rossellini geschrieben hat,
aber es liest sich immer noch so, als sei es gerade erst erschienen. In
Thomes ansteckender Begeisterung für Rossellinis Filme drückt
sich eine Liebe zum Kino und zu den Menschen aus, die auch seine eigenen
Filme trägt. "Rossellini filmt nicht Gedanken, sondern Menschen",
schreibt Thome. "Das macht seine Filme für Menschen, die mehr
denken als sehen, so schwierig. Denn diese haben die Welt geordnet. Sie
wissen, was richtig und falsch, gut und böse ist. Nur: die Wirklichkeit
hält sich nicht an die Regeln des Denkens und die von ihnen erzeugte,
künstliche, Ordnung. Da geht vieles wie Kraut und Rüben durcheinander."
Thomes Annäherung an das Kino Rosselinis liest sich als luzide Selbstbeschreibung,
die eine Wahlverwandschaft zum Ausdruck bringt. Noch nie aber war Thome
Rossellini so nah wie bei Frau fährt, Mann schläft, dem zweiten
Teil seiner mit Rot und Blau begonnenen Zeitreisen-Trilogie.
Illusion vom Familienidyll
Schon der Titel beschwört Erinnerungen an Viaggio in Italia herauf.
Bei Rosselini war es damals Ingrid Bergman, die durch Italien fuhr, während
George Sanders neben ihr schlief. Bei Thome ist es nun die von Hannelore
Elsner gespielte Zahnärztin Sue Süssmilch, die während
einer alles klärenden Reise nach Sardinien von ihrem übernächtigten
Mann, dem Philosophieprofessor Anton Bogenbauer (Karl Kranzkowski), das
Steuer übernimmt. Zu diesem Zeitpunkt hat der Mann allerdings die
Kontrolle über die Situation längst verloren und eine Tragödie
hat die Illusion vom Familienidyll der Süssmilch-Bogenbauers zerstört.
Sue, Anton und ihre vier Kinder Laura (Joya Thome), Martin (Nicolai Thome),
Sue Two (Kathleen Fiedler) und Thomas (Markus Perschmann) stecken gerade
mitten im ganz normalen Chaos eines Umzugs. Alles, was sich in zwanzig
Jahren in der Villa am Rande Berlins angesammelt hat, muss verpackt oder
aussortiert werden, damit man in der neuen Wohnung am Potsdamer Platz,
mitten im Zentrum des Großstadtlebens, noch einmal von vorne anfangen
kann. Zugleich müssen sich die sechs aber noch auf etwas anderes
konzentrieren: Sie sind eingeladen, als Gäste in einer Talkshow aufzutreten.
Vor den Fernsehkameras sollen sie sich als "glücklichste Familie
Deutschlands" präsentieren.
Schon auf der Fahrt ins Studio isoliert Rudolf Thome die Mitglieder dieser
Musterfamilie voneinander, indem die Kamera sie nacheinander in Großaufnahmen
zeigt. Es gibt keinen Schwenk, der von einem zum anderen führen würde,
nur lange, starre Blicke und Schnitte, die sie nachhaltig trennen. Sie
wohnen zwar noch zusammen, aber jeder von ihnen hat bereits sein Leben,
seine eigene Geschichte. Thome wird sie alle erzählen, nebeneinander,
in kleinen, schlaglichtartigen Szenen, die immer wieder die Gleichzeitigkeit,
zugleich die Unverbundenheit der Ereignisse betonen. Alles geht wild durcheinander,
wie Kraut und Rüben eben, der Tod und die Liebe, der Erfolg und das
Scheitern, ein Eindruck von Glück und ein Gefühl von Verzweiflung.
Man muss dieses Wirrwarr, so Thomes Botschaft, nur wie einst Rossellini
akzeptieren, erst dann öffnet sich das Leben in seiner ganzen Fülle
und Schönheit.
"Frau fährt, Mann schläft" - das ist mehr als eine
Beschreibung einer Schlüsselszene oder einer bloßen Anspielung
auf Viaggio in Italia. Die jede Kausalität negierende Reihung der
so präzisen Aussagen verweist auf die Parallelität von Lebensläufen.
Es gibt nicht die eine Geschichte, den einen Film. Erzählt man von
einem Paar, einer Familie, sind es immer mindestens zwei. So verbergen
sich hinter dem Titel am Ende zwei Filme - der eine gehört der fahrenden
Frau, der andere dem schlafenden Mann.
Zuerst sieht man Sues Geschichte, ihre Präsenz überschattet
alle anderen. Selbst wenn Anton oder die Kinder im Zentrum einer Szene
stehen, wandert der Blick immer wieder zu ihr. Ihre oft nur minimalen
Reaktionen verraten viel über das Leben dieser Familie, deren Mitglieder
sich immer mehr aus den Augen verloren haben.
Befreiung aus der Erstarrung
Karl Kranzkowskis fast schon stoische Passivität bildet den Gegenpol
zu der inneren Unruhe und Rastlosigkeit Hannelore Elsners. Man könnte
sie zunächst leicht als ein Zeichen von Schwäche und Hilflosigkeit
missverstehen, doch ein zweiter Blick eröffnet eine andere Perspektive
auf den Philosophen Anton Bogenbauer. Seine ständigen Affären
haben zwar die Ehe ruiniert, aber Thome geht es nicht um die Frage der
Schuld, sondern um die Tragik eines Mannes, der glaubte, die Welt durch
sein Denken ordnen zu können und so irgendwann alles verlieren muss.
Er selbst kann seine Seitensprünge von seiner Liebe zu Sue vielleicht
trennen und so weit rationalisieren, dass sie ihre emotionale Bedeutung
verlieren - nur funktioniert das Leben so eben nicht.
Am Strand von Sardinien enden die Fahrt der Frau und der Schlaf des Mannes.
Und eine Geste ruft noch eine andere große italienische Reise in
Erinnerung: Wie einst Monica Vitti mit der Hand zärtlich über
das Haar des in sich zusammengebrochenen Gabriele Ferzetti gestrichen
hat, so fährt nun Hannelore Elsner über Kranzkowskis Haar. Doch
während Michelangelo Antonionis L'avventura mit dieser Bewegung,
in der Trost und Verzweiflung lagen, endgültig zum Stillstand kam,
folgt hier die Befreiung aus der Erstarrung. Eine Reise ist vorbei, eine
neue kann beginnen.
Sacha Westphal in Frankfurter Rundschau, 4. 11. 2004
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"Frau
fährt, Mann schläft" und Thome bezaubert
Der Potsdamer Platz und Rudolf Thome haben in den letzten Jahren ein ähnliches
Schicksal erlitten: Viel Unfug ist über sie geschrieben worden, von
Leuten, die schon lange nicht mehr genau hingeschaut haben. Das neue Hochhausensemble
in der Hauptstadtmitte und der demnächst 65 Jahre alte West-Berliner
Autorenfilmer wurden beide geschmäht, weil Menschen manchmal vergessen,
daß Kunstwerke und Gebäude Zauberspiegel sind: Wenn man hineinschaut
und einen Ochsen erblickt, ist nicht immer der Spiegel daran schuld.
Nun begegnen sich Platz und Regisseur in "Frau fährt, Mann schläft"
und es ist daraus eine wunderbare Freundschaft zweier Mißverstandener
für 120 Minuten geworden. Thome gelang mit diesem zweiten Teil seiner
"Zeitreisen"-Trilogie ein überaus entspanntes Altersmeisterwerk,
sein bester Film seit langem. Und der Platz kommt als romantische Stadtlandschaft
ganz groß raus. Hier zerschellt das scheinbar geregelte Leben des
Philosophieprofessors Anton Bogenbauer (Karl Kranzkowski) und der Zahnärztin
Sue Süßmilch (Hannelore Elsner) und ihrer vier Kinder. Gerade
noch sind sie in einer Talkshow von der jüngsten Tochter "glücklichste
Familie Deutschlands" angepriesen worden. Doch gleich am nächsten
Tag, nach dem Umzug an den Potsdamer Platz, durchstoßen die Eiszacken
die Oberfläche: Sue merkt, daß ihr Geliebter ihr mehr bedeutet,
als sie ahnte. Anton erfährt, daß eine Studentin ein Kind von
ihm bekommt. Ihr Sohn Thomas wird von seiner Freundin verlassen und fühlt
sich krank.
Das tollste an "Frau fährt, Mann schläft" ist, mit
welcher Sorgfalt und Schönheit hier die Liebesgeschichten und Leidenschaften
der Jüngsten nicht nur gleichzeitig sondern gleichrangig neben denen
der äußerlich Erwachsenen im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Der Moment, in dem Thomas nachts draußen vor dem Fenster seiner
Ex hockend vergeblich versucht, diese durch Hypnose zu beeinflussen steht
der größten Szene des Films an Grausamkeit nach: Am Grab ihres
Sohnes bricht Sue zusammen und flucht mit der obszönen Gewalt einer
Medea. Der Kontrast zwischen der schwarz zugeknöpften Formalität,
durch die unsere Zivilisation die Trauer zu bannen versucht, und der rotglühenden
Lava dieses Ausbruchs ist wie das Gegeneinander von Hammer und Amboß.
Und dazwischen ist der Kopf des Zuschauers. 4.
Matthias Heine in Die Welt, 4. 11. 04
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"Frau fährt, Mann schläft"
Filmemacher Rudolf Thome spürt den inneren Fliehkräften einer Familie nach
Die Story: In einer Fernsehshow stellen sich die Zahnärztin
Sue Süssmilch, der Philosophieprofessor Anton Bogenbauer und ihre
vier halbwüchsigen Kinder als "Die glücklichste Familie
Deutschlands" vor. Während ihres Umzugs von der Peripherie ins
Zentrum Berlins zeigt sich jedoch, dass die Idylle mehr als nur ein paar
Risse hat: Da erfährt Anton, der immer schon Affären hatte,
dass seine derzeitige Geliebte schwanger von ihm ist. Da hat sich Sue
zum ersten Mal ernsthaft in einen anderen Mann verliebt. Und da bricht
der älteste Sohn Thomas vor dem Haus seiner Freundin, die zuvor mit
ihm Schluss gemacht hatte, bewusstlos zusammen.
Die Schauspieler: Hannelore Elsner und Karl Kranzkowski
sind großartig als das einst sehr verliebte Ehepaar, das sich über
die Jahre auseinander gelebt hat. Vor allem der Gefühlsausbruch der
beiden während einer ohne Unterbrechung gedrehten Beerdigungsszene
ist beeindruckend gespielt.
Der Regisseur: Die Szenen einer Ehe zeigt Rudolf Thome
auf seine ganz eigene Art: Ist der Ton in "Rot und Blau", dem
ersten Teil seiner Trilogie "Zeitreisen", noch überwiegend
heiter, nimmt er hier nun eine spürbar dunklere Färbung an.
Wie immer betrachtet die Kamera des 65-jährigen Filmemachers die
Figuren, ihre Vorzüge und unverzeihlichen Schwächen mit aufrichtiger
Zuneigung.
Fazit: Mehr als einmal lässt der Film den Zuschauer
die ganze Härte des Lebens spüren - aber immer auch dessen Schönheit
ECKART ALBERTS in Hamburger Morgenpost, 4. 11. 04
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Ein Ehering in den Wellen
Frau Süssmilch und Herr Bogenbauer haben Probleme mit der Zeit: Rudolf Thomes neuer Film "Frau fährt, Mann schläft" ist der Mittelteil einer Trilogie über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Barbara Bärenklau war Architektin. Sue Süssmilch ist Zahnärztin.
Beide leben mit ihren Familien in Berlin, sind gut situiert und scheinbar
glücklich - und doch haben beide Probleme, die unmittelbar mit der
Zeit zusammenhängen: Bei der einen, bei Barbara Bärenklau, dringt
die Vergangenheit unvermittelt in die Gegenwart ein und zwingt sie dazu,
sich mit ihr auseinander zu setzen; bei der anderen, bei Sue Süssmilch,
gründen die Schwierigkeiten eher in der Gegenwart selbst, die plötzlich
nicht mehr so reibungslos funktionieren will, wie sie das bisher getan
hat. Der Mann von Sue Süssmilch, Anton Bogenbauer, ist Philosophieprofessor,
und er macht sich von Berufs wegen Gedanken über die Zeit und über
die Erkenntnis, dass der Mensch in der Zeit und eben nur in der Zeit ist.
Dennoch ist es zuletzt seine Frau, die mit den gegenwärtigen Schwierigkeiten
besser umzugehen weiß - der Philosophieprofessor scheitert an der
konkreten Umsetzung seiner Erkenntnisse.
Sue Süssmilch ist die Protagonistin in Rudolf Thomes neuem Film "Frau
fährt, Mann schläft" - Barbara Bärenklau war diejenige
aus seinem letzten Film "Rot und Blau" (2003). Die Verbindung
zwischen beiden Filmen wird nicht nur über die Hauptdarstellerin
Hannelore Elsner hergestellt, die sowohl die Architektin als auch die
Zahnärztin verkörpert, sondern vor allem durch das gemeinsame
Thema: Beide Filme sind Teile einer Trilogie mit dem Titel "Zeitreisen",
deren letzter Teil, "Rauchzeichen", noch aussteht. "Rot
und Blau" handelte von der Vergangenheit, "Rauchzeichen"
wird sich um die Zukunft drehen. "Frau fährt, Mann schläft"
hat als Mittelstück zwischen den beiden anderen Filmen die Gegenwart
zum Thema.
Das macht diesen Film insofern bedeutsam, als Rudolf Thome der Gegenwart
in seinen Filmen immer schon ein besonderes Gewicht beigemessen hat: Auch
diejenigen Thome-Filme, in denen die Vergangenheit in den Vordergrund
drängte, waren immer aus der Gegenwart heraus erzählt und ohne
Rückblenden gedreht - das gilt für die Vergangenheitsgeschichte
"Rot und Blau" ebenso wie für den Film "Paradiso"
(1999), in dem ein Komponist verschiedene Frauen aus seinen verschiedenen
Lebensperioden zur gleichen Zeit wiedertrifft. Wenn "Frau fährt,
Mann schläft" diese Gegenwart nun ganz explizit zum Thema macht,
dann heißt das nicht, dass die Protagonisten keine Vergangenheit
hätten. Es heißt aber wohl, dass die Gegenwart zum Ausgangspunkt
der Geschichte wird und dass der Film aus dieser Konstruktion heraus seine
Wirkung entfaltet.
In einer Talkshow stellt die jüngste Tochter von Sue Süssmilch
und Anton Bogenbauer (Karl Kranzkowski) ihre Eltern und Geschwister als
beispielhaft glückliche Familie vor. Und tatsächlich - beide
Eltern gehen in ihren Berufen auf, lassen ihren vier Kindern die Freiheit,
die sie brauchen, und sind trotzdem immer für sie da. Dass dieses
scheinbar erfolgreiche Modell des Zusammenlebens dennoch auf einer Lebenslüge
basiert und dass es schwerwiegende Verschiebungen erleben wird, das kündigt
sich mit dem Umzug der Familie in eine neue Wohnung an. Mit der Veränderung
der Räume scheint auch eine Veränderung der Rollen innerhalb
der Familie einherzugehen. Antons aktuelle Geliebte erwartet ein Kind
von ihm, Sue hat sich ernsthaft in einen anderen Mann verliebt, obwohl
sie Anton bisher trotz seiner Affären treu geblieben war. Und die
Kinder fangen an, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Als der älteste
Sohn dann krank wird und sehr plötzlich stirbt, wird seiner Mutter
bewusst, dass sie sich entscheiden muss, ob ihr Leben mit Anton weitergehen
soll oder ohne ihn. Am Schluss ist klar, dass die Gegenwart nichts Bedrohliches
mehr für sie haben kann, nachdem sie ihre Entscheidung einmal getroffen
hat.
"Frau fährt, Mann schläft" heißt dieser Film,
und das bezieht sich nicht nur auf die eine Szene, in der Sue und Anton
unterwegs nach Sardinien sind, um dort zu einem Entschluss zu kommen:
Sicher, es ist sie, die den Wagen der Sonne entgegensteuert, während
er neben ihr wie bewusstlos schläft. Aber der Titel weist über
diese Szene hinaus: Wie so oft bei Rudolf Thome ist die Protagonistin
eine starke und souveräne Frau, die eben nicht nur im Auto das Steuer
in der Hand hält. Fahren bedeutet in diesem Zusammenhang, die Richtung
vorzugeben, während Schlafen genau das Gegenteil suggeriert.
Dass diese Konstruktion sehr schematisch ist, das tut dem Film in seinen
guten Momenten keinen Abbruch - etwa in der Szene, in der Sue am Grab
ihres Sohnes einen Nervenzusammenbruch erleidet und genau dadurch stärker
ist als alle anderen. In den weniger guten Augenblicken aber lässt
die Konstruiertheit den Film etwas plakativ und eindimensional erscheinen,
und dann vermag auch Hannelore Elsner nicht darüber hinwegzuhelfen,
dass Sue Süssmilch am Ende ihren Ehering ins Meer wirft, und noch
weniger darüber, dass man schon minutenlang vorher gewusst hat, dass
sie genau das tun würde.
ANNE KRAUME in TAZ, 4.11.2004
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Umzug
ins Unglück
Der neue Film von Rudolf Thome: "Frau fährt, Mann schläft"
Eine Familie zieht um, man weiß nicht recht warum. Ein Einfamilienhaus
im alten grünen Berliner Westen - ist's Dahlem? Lichterfelde? - hat
Vater, Mutter und vier Kinder bisher zur Zufriedenheit beherbergt. Mehr
noch als das: Hier war die Heimat der "glücklichsten Familie
Deutschlands" - als eben diese hatte die jüngste Tochter sie
einem lokalen Fernsehsender angepriesen. Am Abend vor dem Umzug sitzen
sie alle miteinander im Studio und lassen sich die zudringlichen bis dämlichen
Fragen eines Talkshow-Moderators über ihr häusliches Glück
gefallen: eine Szene mit dschungelcampesken Qualitäten, man sieht
sie gepeinigt und genüsslich zugleich an, so nah kommt der ironisch
Abstand haltende Regisseur Rudolf Thome sonst der Groteske eigentlich
nie.
Am Morgen danach geht es für Familie Süßmilch-Bogenbauer
zum Potsdamer Platz, in eine sterile Neubau-Dachgeschosswohnung, auf die
sich nur die vier adoleszenten Sprösslinge freuen. Sie sollen näher
ans Großstadtleben rücken dürfen, den Eltern ist's eigentlich
egal. Inmitten halb fertig gepackter Kisten wird die Frühstücksroutine
aufrecht erhalten: Die kurdische Haushälterin (Serpil Turhan) bringt
wie immer jedem sein Lieblingsbrötchen mit; Vater Anton Bogenbauer
(Karl Kranzkowski), ein Philosophieprofessor, durchblättert die sieben
Tageszeitungen, die man sich im Abonnement hält. Mutter Sue Süßmilch
(Hannelore Elsner), eine promovierte Zahnärztin, umschwebt im schmetterlingszarten
Gewand den Tisch, an dem man sich artig Zucker und Marmelade reicht -
dies aber so beängstigend abwesend, dass der Zuschauer ahnt: Es wird
nicht mehr viele Tage wie diesen geben.
"Frau fährt, Mann schläft" ist der zweite Abschnitt
der "Zeitreisen"-Trilogie von Rudolf Thome. Nachdem es im ersten
Teil, "Rot und Blau", zurück in die Vergangenheit ging,
ist jetzt die Gegenwart dran; der letzte Film soll in die Zukunft führen.
Alle drei verbindet formal, dass Hannelore Elsner eine tragende Rolle
inne hat; die inhaltliche Klammer ist eine Beschäftigung mit der
Frage, ob das Glück im bürgerlichen Leben Erfüllung finden
kann oder unweigerlich im Philistertum enden muss. Thome, der am 14. November
seinen 65.Geburtstag feiert, widmet diesem Thema ohnehin eine Langzeitstudie
- die Beschwörung des utopischen Glücks-Moments durchzieht sein
gesamtes Werk, von der anfänglich schluffigen "Man müsste
mal ."-Attitüde der späten Sechziger bis hin zu den Filmen
der letzten Jahre: wie "Paradiso" (1999), worin ein 60-Jähriger
die sieben wichtigsten Frauen seines Lebens nebst aller Kinder zur Wahlfamilie
gruppiert; wie "Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan" (1998),
worin ein unsterblicher Zeitreisender aus ferner Zukunft be i bereits
desillusionierten Jungvermählten nach der richtigen Liebe sucht.
Und "Rot und Blau" geleitete 2003 wieder in jenes scheinbar
aufgeklärte, sich vor hohlen Ritualen gefeit glaubende und doch darin
erstarrte bildungsbürgerliche Milieu, das Thome seit den 80er-Jahren
in seinen beiläufigen Alltagsbeobachtungen analysiert.
In "Frau fährt, Mann schläft" nutzt er die Architektur
des Potsdamer Platzes als Metapher einer Leere, die sich allmählich
ins Herz einer Familie frisst. Mögen etliche Werbekampagnen der letzten
Jahre auch wie eine Image-Broschüre für diesen Ort funktionieren
- Rudolf Thome lässt seinen Kameramann Michael Wiesweg ausschließlich
die lediglich zweckmäßig ausgestatteten Abseiten aufnehmen,
die ohne jeden Designglanz fertig gestellten Funktionswege bar der euphorisierten
Passanten, die normierten und meist dunklen Fenster ohne persönliche
Dekoration. Es ist ein dankenswert realistischer Blick, der enttäuschen
muss.
Das Auge findet in dieser Außenwelt kein neues Glück, und so
richtet es sich gewissermaßen nach innen - dahin, wo ihm das alte
längst abhanden gekommen ist, wo kontinuierlich über das hohle
Gefühl hinweg gelebt wird. Anton pflegt ewig schon diverse Verhältnisse,
aktuell gerade eins mit der Haushälterin und eins mit einer Studentin,
die ihn zwar mit der Plattitüde "Denken ist sexy" nicht
abschrecken kann, wohl aber mit der Eröffnung, sie sei schwanger.
Sue ist seit geraumer Zeit in einen Forscher verliebt, der nun jedoch
nach Lateinamerika gehen muss. Die Kinder haben längst ihre eigenen
Pläne. Sie träumen, je nach Alter, von Ponies und Filmrollen
oder der ersten großen Liebe, was (wie auch bei den Erwachsenen)
mitunter in sonderbar gestelzte Dialoge mündet; welcher Teenager
spricht denn wirklich so einen Satz aus wie "Du liebst doch nur meine
Schönheit"?
Eine gefährliche Krankheit des ältesten Sohnes wirft die Eltern
zurück auf die - recht langatmig entrollte - Erkenntnis, dass sie
ihr gemeinsames Glück verloren haben. Sie fahren nach Italien, um
es zu suchen. Und ein Ehering fällt erstmal ins Wasser.
Carmen Böker in Berliner Zeitung, 4. 11. 04
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Frau
fährt, Mann schläft
Die glücklichste Familie von Deutschland soll das sein, der Berliner
Philosophieprofessor Anton Bogenbauer (Karl Kranzkowski), seine Frau,
die Zahnärztin Sue (Hannelore Elsner) und ihre vier Kinder, alle
umsorgt von einer jungen, engelsgleich-fürsorglichen Haushälterin
(Serpil Turhan). Zumindest die jüngste Tochter sieht das so, und
deshalb gibt es einen Auftritt der Familie in einer Talkshow, bei dem
man auch erfahren kann, dass sich “Denken und Kinder” nicht
zwangsläufig ausschließen. Der Anschein von Erfolg und Glück
aber trügt. Der älteste Sohn leidet an schlimmem Liebeskummer
und fühlt sich krank, Sue ist heftig in einen anderen Mann (Hanns
Zischler) verliebt, und Bogenbauer hat eine Affäre mit einer blonden
Studentin (Eva Herzig). Wenn in der ersten Hälfte diese Verhältnisse
geschildert werden, in denen sich die Personen offenbar ganz gut eingerichtet
haben, hat das beinahe den Tonfall eines amüsanten Boulevardstückes,
in dem nur gelegentlich irritierende Momente aufscheinen: die Anhänglichkeit
Sues an ein altes Springseil etwa, oder die Beschwörung der Katastrophe
in einem Ameisenhaufen, wenn dort ein Stein hineinfällt, alles rennt
durcheinander, und die Leichen werden abtransportiert. In seiner Vorlesung
beschäftigt sich Bogenbauer mit der Zeit und erkennt: “Der
Tod ist der Austritt aus der Zeit.”
Wieder erzählt Rudolf Thome eine tückisch einfache Geschichte,
in die er ganz beiläufig Erkenntnisse und Ideen von ungeheurer Spannbreite
und philosophischer Brisanz einbringt. Der Umzug der Familie weist da
schon auf ganz andere Umbrüche hin, vom Chaos in einem Ameisenhaufen
ist es nur ein Gedanke zum Kollaps eines Sternensystems. Der Titel FRAU
FÄHRT, MANN SCHLÄFT zitiert einerseits ganz direkt den Anfang
von VIAGGIO IN ITALIA des von Thome bewunderten Roberto Rossellini, über
den er in einem Band der Reihe Hanser geschrieben hat: ein englisches
Ehepaar unterwegs in Italien, Ingrid Bergman fährt, George Sanders
schläft, dann hält sie an und sie tauschen die Plätze.
Andererseits ist die Aufmerksamkeit für einen so banalen Vorgang
aber auch schon ein bestimmtes ästhetisches Programm, das Thome mit
Rossellini und anderen Regisseuren der filmischen Moderne teilt: dass
sich die Welt erschließen lässt, wenn ihre äußeren
Erscheinungen sorgfältig und genau festgehalten werden, mit einem
Effekt, den Gottfried Benn auf die Formel gebracht hat: “Die Tiefe
ist außen”.
Letztlich geht es in Thomes Geschichte mit vielen Facetten um Veränderungen,
um Bewegung in erstarrten Verhältnissen und die Fähigkeiten
der Menschen, mit Veränderungen zu leben. Das Gehirn kann sich nach
einem Zusammenbruch wieder erholen, und am Computer, so weiß der
jüngere Sohn, ist es sowieso einfach: “Neustart.” Ziemlich
genau in der Mitte kommt es auch zu einer Neubesinnung des Films. Da hat
das Schicksal mit elementarer Wucht zugeschlagen, der ältere Sohn
Thomas (Markus Perschmann) ist überraschend gestorben. Mit großem
Ernst werden nun die unterschiedlichen Reaktionen der Familie auf diese
Katastrophe verfolgt. Für Sue, die eigentlich jede Veränderung
hasst, ist sie Anlass, ihre Ehe überhaupt in Frage zu stellen. Im
psychologisch ungemein genauen Spiel von Hannelore Elsner und Karl Kranzkowski
entsteht daraus ein dichtes Drama, in dem noch ein falsch erinnertes Vaterunser
auf dem Krankenhausflur zum Ereignis wird. Bis zum Schluss bleibt offen,
ob der Ehering am Strand von Sardinien ins Meer geworfen wird oder nicht.
Szenen einer Ehe. Durch den Tod ihres Sohnes gerät ein
Ehepaar in die Krise und versucht eine Klärung auf einer Reise nach
Italien. Rudolf Thomes Film glänzt mit philosophischen Perspektiven
auf Zeit und Tod und mit Hannelore Elsner und Karl Kranzkowski als hervorragenden
Schauspielern.
Karlheinz Oplustil in epd-Film November 2004
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Frau
fährt, Mann schläft (Zeitreisen 2 – Die Gegenwart)
Alles, was du in den letzten zwei Jahren nicht angefasst hast, kann weg“,
rät der pragmatische Philosophie-Professor Anton seiner umzugsunwilligen
Frau Sue, die sich nicht von Dingen trennen mag. So liegt über dem
Beginn eine leise Melancholie, die mehr von Abschied als von Aufbruch
erzählt. Die Familie Bogenbauer-Süssmilch zieht von der Peripherie
direkt dorthin, wo man „ganz dicht am richtigen Leben“ ist,
wie Tochter Laura sagt. Routiniert und mit mildem Spott reagiert Anton
auf seine gereizte Frau. Kein Wunder, schließlich hat man es hier
mit „Deutschlands glücklichster Familie“ zu tun; als
solche tritt die sechsköpfige Familie in einer Fernseh- Talkshow
auf und schlägt sich angesichts der professionellen Oberflächlichkeit
des Moderators Harald Flickschuster mehr als wacker.
Anton Bogenbauer, Sue Süssmilch, Harald Flickschuster – wenn
Figuren solche Namen tragen, befindet man sich mitten im Universum von
Rudolf Thome, in dem man türkische Haushälterinnen und italienische
Freundinnen hat, morgens fünf Tageszeitungen liest und über
„Weltformeln“ und die „absolute Wahrheit des Universums“
nachdenkt. „Frau fährt, Mann schläft“ erzählt
von der Brüchigkeit und bestenfalls kurzfristig zu stabilisierenden
Erfahrung von Glück. Allzu glücklich ist „Deutschlands
glücklichste Familie“ nämlich nicht. Seit Jahren schlafen
Sue und Anton getrennt – man darf die eingangs zitierte Maxime Antons
auch auf ihre Beziehung münzen. Anton hat ein Verhältnis mit
einer Studentin, Sue hat sich in den Astronomen Sven Hedin verliebt, der
älteste Sohn Thomas hat gerade von seiner Freundin den Laufpass bekommen,
und auch die anderen drei Kinder erleben ihre ersten Beziehungen außerhalb
der Familie. So stehen neben den räumlichen auch emotionale Veränderungen
an, doch erst der unerwartete Tod von Thomas schafft die nötige Distanz
zur Alltäglichkeit.
Meisterlich gestattet Thome im zweiten, der Gegenwart gewidmeten Teil
seiner „Zeitreisen“-Trilogie einen präzisen Blick in
seine phänomenologische Poetik und verhandelt „letzte Dinge“
auf ernsthafte, zugleich stets leicht distanziert-amüsierte, vielleicht
auch nur extrem zugespitzte Weise. Im Gang vor Thomas’ Krankenbett
gesteht Sue Anton, dass sie einen anderen Mann liebt, und dass sie beide
zu lange mit ihren Lügen gelebt hätten. Anton reagiert regungslos,
sein zuvor souveränes Verhalten „entlarvt“ sich binnen
Sekunden als selbstgefällig und egozentrisch. Als Glücksfall
für Thomes komplexe psychologische Studie erweist sich das präzise
Spiel der Hauptdarsteller: Hannelore Elsner braucht nur einen langen,
abschätzenden und abschätzigen Blick, um die Entfremdung von
Dokuihrem Mann zu vermitteln; begeisternder noch ist, wie Karl Kranzikowski
äußerst zurückhaltend die nahezu vollständige Dekonstruktion
seiner Figur als selbstgefälligen „Poser“ anlegt, der
jedem Rock nachsteigt. Am Grab des Sohnes erleidet Sue einen Nervenzusammenbruch
und wird von Anton in die Spezialklinik eines befreundeten Arztes gebracht,
was sie als Verrat begreift. Doch es ist genau diese Distanz von der Familie,
die Sue, die zunächst über ihre Defizite und Ängste charakterisiert
wurde, den Raum gibt, um ihre Ehe und Träume zu bilanzieren. Ihr
Fazit ist bitter, eröffnet der gemeinsamen Zukunft aber eine letzte
Chance.
Der Film endet mit einer Reise nach Italien, auf die der eigenwillige
Filmtitel anspielt. Roberto Rossellinis „Viaggio in Italia“
(1953), gleichfalls die Geschichte einer Ehekrise, begann mit einer Einstellung,
die genau das zeigte: Frau (Ingrid Bergman) fährt, Mann (George Sanders)
schläft. Thome, für den die Italien-Reise ein beständig
wiederkehrendes Motiv ist, schrieb 1987 dazu: „Rossellini hat nicht
eine Vorstellung im Kopf gehabt, die er, wenn er dreht, in Bilder, in
Filmszenen umsetzt ... Das, was Rossellini sucht, ist etwas Flüchtiges.
Nennen wir es Glück, nennen wir es Wahrheit. Das sind große
Worte, die gar nicht so wichtig sind. Es geht auf jeden Fall darum, worum
es in jeder Kunst geht: um den Versuch, die Wirklichkeit zu sehen und
darzustellen.“ Vergleichbar produktiv, wie Thome hier einen unüberschaubaren
Referenzraum aktualisiert, schmuggelt er durch die Profession der um Sue
werbenden Männer Subtexte als Kommentar in seinen Film. So trägt
der Moderator Flickschuster Thesen aus Antons Studie „Das Zeitproblem
– Gestern, Heute, Morgen“ vor, in der es heißt: „Wer
nicht darauf vertraut, dass die Macht der Phänomene, selbst unermesslich,
viel stärker ist als jene kümmerlichen Gebilde, die wir als
unsere Begriffe mit uns herum tragen, der hat noch nicht angefangen zu
denken. Also Wirkliches zu erfassen, wie es von sich aus ist!“ Später
stellt Anton in einer Vorlesung zur Metaphysik fest: „Der Mensch
weiß, dass er in der Zeit ist, der Tod ist der Austritt aus der
Zeit, das Wissen um die eigene Sterblichkeit distanziert den Menschen
inmitten der Zeit von der Zeit, nur aus Distanz ist also Erkenntnis möglich.“
Interessant wird es, wenn Sue, zunächst überfordert, feststellt:
„Mein Gott! Warum passiert immer alles gleichzeitig?“, um
wenig später gegenüber Anton das erkenntnistheoretische Paradoxon
„Stell’ dir vor, es gibt nur die Gegenwart!“ zu formulieren.
Tatsächlich kreist „Frau fährt, Mann schläft“
um einen Moment profaner Erleuchtung, um die Aufhebung der Distanz zur
Gegenwart. Wenn Sue am Schluss ihren Ehering ins Meer wirft, ist wirklich
alles entschieden; hatte sie doch zuvor ihrem Geliebten Sven Hedin ihren
Traum erzählt, indem es hieß: „Du musst dein Liebstes
opfern, dann bist du frei!“
Dermaßen konzise gelingt Thome die Weitung der Ehegeschichte ins
Allgemeine, dass „Frau fährt, Mann schläft“ zur
Quintessenz seiner aktuellen Werkphase wird. Bei aller Schärfe im
Detail bleibt sein Blick aufs Geschehen dennoch milde und ungerührt.
Hier kommt die Perspektive des Astronomen Hedin ins Spiel, der das Leben
mit einem Ameisenhaufen vergleicht, in den man einen Stein wirft; binnen
kurzer Zeit seien die Leichen fortgeschafft, sei das Chaos in eine neue
Ordnung überführt. Thomas’ Tod ist ein solcher Stein,
der für kurze Zeit ein Chaos erzeugt. Aus der Distanz jedoch, auch
davon erzählt Thome, ist die Krise nur ein vorübergehendes Moment
im Rhythmus von Werden und Vergehen. Dass Antons und Sues Kinder nach
der Katastrophe rasch in ihren Alltag zurückfinden, sexuelle, künstlerische
oder freundschaftliche Erfahrungen machen, bestätigt diese Perspektive
aufs Leben.
Ulrich Kriest in FILMDIENST 23/2004
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Das
ganze Gewimmel
Rare Ausnahme im deutschen Kino der Gegenwart: Rudolf Thome und
sein jüngster Film "Frau fährt, Mann schläft" Krise,
das andere Gesicht der Dauer: Hannelore Elsner und Karl Kranzowski in
"Frau fährt, Mann schläft" von Rudolf Thome
Im deutschen Kino der Gegenwart, daszwischen Großspurigkeit und
Askese schwankt, ist Rudolf Thome eine rare Ausnahme. Heuer stellt er
auf der Viennale Frau fährt, Mann schläft vor.
Die Familie Süßmilch-Bogenhauser kennt keinen Generationenkonflikt.
Beim Frühstück sitzen alle genauso einhellig beisammen wie in
der Talkshow von Harald Flickschuster, wo sie als "die glücklichste
Familie Deutschlands" eingeladen sind. Der vier adoleszenten Kinder
wegen ziehen die Süßmilch-Bogenhausers noch einmal um –
von der Villa im Grünen in die Dachwohnung am Potsdamer Platz, im
Zentrum Berlins.
Rudolf Thomes neuem Film Frau fährt, Mann schläft ist
allerdings an der Zeit mehr gelegen als an Orten. Ein Goethe'sches Interesse
an der Dauer im Wechsel bestimmt diese Geschichte, in deren Mittelpunkt
wie schon in Rot und Blau , der letztes Jahr auf der Viennale lief, die
Schauspielerin Hannelore Elsner steht. Sie spielt die Zahnärztin
Sue Süßmilch, die Mutter der vier Kinder, die Ehefrau, die
zum ersten Mal in ihrem Leben einen anderen Mann liebt, seit sie vor vielen
Jahren den Philosophen Anton Bogenbauer geheiratet hat. Aber Sven Hedin
(Hanns Zischler) muss nach Lateinamerika, wo er Forschungen betreibt.
Bürgertum ...
Die blumigen Namen, mit denen Rudolf Thome seine Figuren versieht, sind
wohl Programm. Das Milieu, dessen Langzeitbeobachtung sich der Berliner
Filmemacher verschrieben hat, ist schon vor einiger Zeit in ein Stadium
der Klassizität eingetreten. Der akademische Beruf, das türkische
Hausmädchen, die sieben Tageszeitungen am Morgen, die getrennten
Betten, die braven Kinder, der gepflegte Seitensprung: Es herrscht ein
großes Kontinuum, von dem selbst die Pubertät und der Liebeskummer
der Kinder geprägt sind.
Nur Thomas, der älteste Sohn, hat an der Abfolge der Werke und Tage
keine Freude. Er hat einen Kopfschmerz, der gefährlicher ist, als
sein Vater anfangs glauben möchte. Thome begreift Krise jedoch vor
allem als das andere Gesicht der Dauer. Jenseits des fünfzigsten
Geburtstags kann man entweder noch einmal alles über den Haufen werfen
und den wilden Mann oder die wilde Frau geben, oder man kann sich auf
die Suche nach einer olympischen Perspektive machen.
Rudolf Thome findet sie natürlich nicht (das wäre sicher schlechtes
Kino), aber er deutet doch einige Modelle der Selbsterschließung
an. Die philiströsen Vorlesungen des Professor Bogenbauer zählen
da weniger dazu als die Versuche einer naturwissenschaftlichen Wesensschau
(es gibt zwei Computertomografien in diesem Film).
Als die Viennale 1997 ein Special über Filme aus der BRD aus den
Jahren 1964–76 zusammenstellte, lief auch ein Kurzfilm von Rudolf
Thome aus dem Jahr 1966: In Stella ging er von dem Goethe-Stück
aus und machte daraus ein kleines Experiment über die offene Zweierbeziehung.
Thomes Geschichte danach, der Erfolg mit Detektive und Rote
Sonne , ist gut bekannt, auch die Westberliner Klassiker wie Berlin
Chamissoplatz .
Die Viennale hat Thome im Jahr 2000 mit Paradiso – Sieben Tage
mit sieben Frauen mehr oder weniger wiederentdeckt und verfolgt seither
sein häufig mit den Filmen von Rohmer verglichenes Lebenswerk, zu
dem auch ein Internettagebuch ( www.moana.de ) gehört. Im deutschen
Kino der Gegenwart, das zwischen Großspurigkeit und Askese schwankt,
ist Thome eine rare Ausnahme, weil er kontinuierlich produziert und seine
Idiosynkrasien selten esoterisch werden.
... nach der Krise
Frau fährt, Mann schläft ist der mittlere von insgesamt
drei geplanten Filmen mit Hannelore Elsner. Sie ist ein Star, der sich
bei Thome ganz intim geben darf. Hier lernt sie allmählich, wieder
"ich" zu sagen. Sie tut es, nach leidvollen Erfahrungen, laut
und deutlich und mit einem Nervenzusammenbruch.
Der Erfahrung von bürgerlicher Zeit tut dies keinen Abbruch. Nach
der Krise sammelt man sich, fährt nach Italien, trifft eine Entscheidung
– so ist das Leben, für das Sven Hedin das Bild vom Ameisenhaufen
bemüht: Von oben besehen ist das ganze Gewimmel doch sehr in Ordnung.
Bert Rebhandl in DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.10.2004
Frau fährt, Mann schläft
Zusammen mit ihren vier Kindern bilden die Zahnärztin Sue
Süßmilch (H. E.) und der Philosophieprofessor Anton Bogenbauer
(K. K.) eine so perfekte Einheit, dass sie es auf Betreiben der jüngsten
Tochter sogar in eine TV-Talkshow geschafft haben -als die glücklichste
Familie Deutschlands. Aber Glück ist eine zerbrechliche Geschichte,
und was im Fernsehen klar und sauber wirkt, schaut im Leben oft ganz anders
aus. Geheimnisse, Affären, Sehnsüchte, Wünsche drängen
sich ins Bild, auch die Liebe lässt sich nicht so einfach ausknipsen
wie eine Lampe, deren Licht urplötzlich lästig wurde. Es ist
eine idyllische Falle, in die der deutsche Autorenfilmer Rudolf Thome
seine Zuschauer lockt, denn "diese Ehe ist festgefressen wie ein
Motor mit einem Kolbenbrenner". So muß ein schlimmer Schock
her, damit wieder Bewegung in die Situation kommt. Leichtes Weinen in
einer lebensfrohen Tragödie.
(p.k. in SKIP - Viennale Guide)
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Die
Glückssucher
Hannelore Elsner unterwegs: "Frau fährt, Mann schläft"
Es muss schon allerhand passieren, bis eine Filmfigur von Rudolf Thome
einen Nervenzusammenbruch erleidet. Der Regisseur Rudolf Thome gilt als
Romantiker, für seine Charaktere richtet er gerne kleine Paradiese
inmitten der Großstadt ein. Aber jetzt kann Sue Süßmilch
(Hannelore Elsner) nicht mehr, und man kann sie verstehen: Sue steht am
Grab ihres ältesten Sohnes und schreit und flucht und klagt an. Dazwischen
entfährt ihr der verrückt-verzweifelte Satz: "Ich muss
glücklich sein."
Dabei waren Sue, ihr Ehemann Anton Bogenbauer (Karl Kranzkowski) und die
vier Kinder kurz zuvor noch als "glücklichste Familie Deutschlands"
in eine Talkshow eingeladen worden. Auf der Fahrt ins Studio schaute die
Kamera jedem einzelnen Familienmitglied lange ins Gesicht, und der Zuschauer
forschte nach Zeichen des Glücks. Viel war in den verschlossenen
Mienen aber nicht zu entdecken. Und sowieso wirkt die heile Welt von Beginn
an seltsam exklusiv: Man sieht kaum andere Leute, sogar an öffentlichen
Plätzen sitzen die Familienmitglieder ganz für sich allein.
Dann erkrankt Sohn Thomas, und in Sue schwelt fortan der groteske Verdacht,
dass die Ursache dafür womöglich in den Lebenslügen der
Eltern zu suchen ist. Sie, die Zahnärztin, liebt einen anderen Mann,
seit Anton sie nicht mehr liebt, und Anton, der Philosophieprofessor,
hat Affären mit Studentinnen. Eine erwartet ein Kind von ihm.
So verfahren ist die Situation, dass der 65-jährige Regisseur Thome
sich entschieden hat, die Dramatik seines Films "Frau fährt,
Mann schläft" ausnahmsweise mal nicht in einer Komödie
aufzuheben. In "Rot und Blau", dem ersten Teil der geplanten
"Zeitreisen"-Trilogie, mit "Vergangenheit" untertitelt,
war das noch anders. Da spielte Hannelore Elsner eine Frau, die ihre Tochter
verließ, als diese noch ein Baby war. Als erwachsene Frau tauchte
die wütende Tochter wieder auf. Doch schnell glättenden sich
die Wogen, sanft lächelnd ging man zum Rotwein über.
Nun sind wir in der Gegenwart angelangt, und die lässt sich offenkundig
nicht so leicht abhaken wie Vergangenes. Sie lässt sich nicht einmal
verstehen, auch wenn hier das dauernd behauptet wird. Der Philosophieprofessor
doziert über die Wahrheiten im Universum, und die Computertomografen
blinken, wenn die Menschen in Röhren durchleuchtet werden. Das Innerste
registrieren die Apparate aber nicht, vielleicht hat Sues Geliebter (Hanns
Zischler) Recht, wenn er sagt, das Leben sei ein Ameisenhaufen, in den
ein Junge einen Stein werfe und Chaos verursache.
Manchmal klingt das alles viel zu klug, um wahr zu sein. Und doch ist
"Frau fährt, Mann schläft" ein kluger Film, der beste
von Thome seit langem. Der Regisseur drückt sich dieses Mal auch
nicht um existentielle Entscheidungen herum: Als Sue wieder gesund ist,
übernimmt sie das Steuer und fährt mit ihrem schlafenden Mann
auf dem Beifahrersitz in den Urlaub nach Italien. Sie, die bislang vor
der kleinsten Veränderung zurückscheute, weiß nun, dass
ihr eine große bevorsteht. Doch wenn nicht alles täuscht, dann
ist sie jetzt trotz allen Unglücks glücklich. Ein kleines bisschen
jedenfalls.
Stefan Stosch in Hannoversche Allgemeine, 2. 12. 2004
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Familie
unter Druck
Rudolf Thome ist mit "Frau fährt, Mann schläft"
einer seiner bislang besten Filme gelungen
In einer Talkshow wird die Familie Bogenbauer, Vater, Mutter und vier
fast erwachsene Kinder als "glücklichste Familie Deutschlands"
präsentiert. Da kann es eigentlich nur noch bergab gehen. So ist
es denn auch. Dem Vater (Karl Kranzkowski), Professor für Philosophie,
eröffnet eine Studentin, dass sie von ihm schwanger sei. Die Mutter
(Hannelore Elsner), eine Zahnärztin, kann nur schwer verwinden, dass
ihr Geliebter (Hanns Zischler) eine längere Amerikareise antritt.
Die vier Kinder haben sich allesamt verliebt, aber nicht immer glücklich,
und die Hausangestellte (Serpil Turhan) mag nicht länger mit dem
Herrn des Hauses schlafen. Einen Familienfilm der etwas anderen Art drehte
Rudolf Thome mit "Frau fährt, Mann schläft". Die Fakten
scheinen verzwickt, aber es geht hier nicht um das übliche Problem
der bürgerlichen Familie, die ihre Fassade poliert. Vielmehr sieht
man, wie die Familie als Existenzgemeinschaft mit den Forderungen des
Lebens umzugehen versucht.
Welch harte Probe das sein kann, zeigt sich, als eines der Kinder stirbt,
nun wird auch die Ehe der Eltern Anton und Sue in Frage gestellt. Rudolf
Thome versteht es, die Handlungsfäden seiner komplexen Figurenkonstellation
straff in der Hand zu behalten.
Ungewissheit bis zur letzten Szene
Er vertrödelt seine Geschichte nicht auf Nebenschauplätzen,
jede Einstellung treibt den Film voran. "Frau fährt, Mann schläft"
präsentiert sich als die Summe der Filme, die Thome in den 90er Jahren
drehte. Endlich einmal reicht seine Kraft zu mehr als einer eigenwilligen
Inszenierung. Tatsächlich zeigt Thome die Familie als Schicksalsgemeinschaft,
die sich fragen muss, wie es angesichts der Katastrophe weitergehen soll.
Kameramann Michael Wiesweg liefert die Bilder dazu, die ihre Intensität
aus einer stoischen Ruhe beziehen — ein Großstadtfilm ohne
jeden Lärm.
Hannelore Elsner spielt erfahren und doch frisch und authentisch. Karl
Kranzkowski, der noch zu einem Star des deutschen Films werden könnte,
gleicht mit seiner unerschütterlichen Präsenz das einzige Manko
dieses Films aus, in dem die Rolle des Vaters zu wenig inszeniert ist.
Gleichwohl offeriert Thome ein Werk, das sich international sehen lassen
kann. Und bis zur letzten Szene weiß man nicht, wie die Geschichte
von Anton und Sue ausgeht. Selbst dann gibt es noch was zu erzählen,
was den Zuschauer noch beim Verlassen des Kinos beschäftigt.
Thomas Linden in Kölnische Rundschau 18. 11. 2004 |