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Der Tagesspiegel,  Harald Martenstein  2.9.98
die tageszeitung,  Andreas Becker  3. 9. 98
Berliner Zeitung,  Rolf Aurich  7. 9. 98


 


 



Weiblicher Wein

Wenige Männer, viele Frauen, ein Tigerstreifenbaby.
Eine Rudolf - Thome - Retrospektive im Arsenal.

Andreas Becker
die tageszeitung
3. 9. 98
"Zur Arbeit, ihr müßt zur Arbeit?” Marquard Bohm in "Rote Sonne" faßt es nicht - jetzt wollen die Frauen auch noch arbeiten. "Was tust du überhaupt hier, niemand hat dich gebeten hierzubleiben", sagt Uschi Obermaier zu Bohm. Sie sitzt auf der Bettkante. Wird sie ihn jetzt verführen? Hochdramatische Geigenmusik setzt ein. Bohm wird in dieser Geschichte nur noch selten allein sein. Gleich mehrere Mädchen erkennen, daß dieser Mann viel Zuwendung braucht.

Rudolf Thome, Regisseur, drehte "Rote Sonne" 1969. Und wahrscheinlich - sind die Thomeschen Essentials hier schon alle vorhanden. Es geht immer um einen einzelnen Mann, der tapsig durch die Gegend stapft, meist ein paar Millimeter über dem Boden schwebend. Thomes Männer sind Traumtänzer, die ohne das weibliche Element heillos verloren sind in der Welt. Deshalb brauchen sie bedingungslose Liebe. Doch die Frauen verfallen einem solchen Mann nicht, sie wählen ihn bei Thome bewußt aus. In "Der Philosoph" eröffnen "seine" drei Frauen extra ein Modegeschäft, weil sie wissen, das "ihr Mann" irgendwann einen Anzug brauchen wird. "Ihr habt mich also in eine Falle gelockt? Tja ... wir werden den Laden jedenfalls schließen, wir brauchen ihn nicht mehr." Diese Männer begreifen ihr Glück natürlich gar nicht, die Frauen müssen ihre Love-Traps aufstellen, aber natürlich nicht, um sich zu bereichern oder den Mann auszubeuten. Nein, nur um ihm Liebe zu schenken, morgens Kaffee ans Bett zu bringen,bei Fieber Wadenwickel zu machen. Die letzte große Utopie! Einige halten das wohl für Machoträume, doch die haben Thome nicht verstanden.

Denn daß diese Frauen keine Dummchen sind, versteht sich von selbst. Für einige muß man es aber immer dazusagen. Superselbstbewußt, in sich ruhend, anmutig statt sexy sind sie. Kein vernünftiger Mann kann ihnen widerstehen.

Ganz vorsichtig behandeln sie das rohe Ei Mann, ganz vorsichtig wollen sie ihm zu ihrem und seinem Glück verhelfen. "Der Philosoph" zieht bei drei Frauen ein - immer wohnen die Männer, wie auch im neuen "Tigerstreifenbaby", mit mehreren Frauen zusammen -, und eine der Frauen besorgt ihm einen Computer. Sie erklärt ihm, wie einfach man damit schreiben kann. Der Philosoph beginnt zu schreiben, kann aber nicht, solange "Sie" hinter ihm steht. Willst du mich verführen? fragt er.

Die Frauen sind keine Musen mehr, sie nehmen Männerrollen ein. Alles wird weiblich. Das ist kein bißchen ironisch gemeint bei Thome. Sein Feminisierungsprojekt geht so weit, daß der Wein, den die Frauen für den Philosophen kaufen, vom Händler als weiblich im Bouquet charakterisiert wird. Sogar die Landschaft ist weiblich. Ja, wenn man ganz genau hinschaut, sind auch Thomes Autos, mit denen die Frauen am Steuer mit den Männern zum See fahren, weiblich. Haben runde Formen wie der Käfer in "Rote Sonne" oder sind kugelig wie der Peugeot 205 in "Der Philosoph". Phalluswagen gibt's nur für absolute Machos, wie einen Ford Mustang in "Rote Sonne", und dessen Fahrer wird nach dem Sex von den Drohnen-Frauen natürlich getötet.

Und Orte, die in der Realität häßliche Hundestrände sind, werden bei Thome zum Platz der ersten Liebe. In einer WDR-Dokumentation über die Dreharbeiten zu den aktuellen Thome-Filmen "Tigerstreifenbaby" und "Just Married" versucht das Team eine Sexszene am Strand zu drehen. Herbert Fritsch weiß nicht, wie er das machen soll, wie man das spielen soll. Ihr könnt das doch so machen, daß sie auf dir drauf sitzt, sagt Thome und deutet an, daß sie "es" so nicht unbedingt machen müssen, es aber schon echt aussehen sollte. Man spürt die Unsicherheit von Fritsch und seiner Partnerin. Werden sie gleich zusammen schlafen, oder werden sie nur so tun? So schafft Thome Spannung zwischen den Schauspielern, die sich als eine Art Hyperrealismus in den Filmen manifestiert. An diesen Figuren kommen wir als Zuschauer nicht so einfach vorbei, die haben zu viel von uns selbst.



Die Gammelei ist vorbei

Das Arsenal zeigt sämtliche Filme des Berliner Regisseurs Rudolf Thome

Rolf Aurich
Berliner Zeitung
7. 9. 98
Schinkenbrötchen mit Marmelade und eiskalter Wodka zum gebratenen Steak sind in den frühen Filmen von Rudolf Thome wichtige Details. Uschi Obermeier, Marquard Bohm, Iris Berben oder Diana Körner leben in "Detektive" (1968) und "Rote Sonne" (1969) einen Traum: Sie frühstücken abends im Bett, lungern tagsüber in Münchner Cafés, tanzen zu zeitgenössischer Musik, rauchen, trinken und quatschen. Die Geschichten erzählen immer von jugendlicher Faulheit, von schönen, starken Frauen und vom vergeblichen Traum, "richtige Filme" machen zu können. Die Männer auf der Leinwand und im Kino müssen oft viel leiden.

Beiläufige Glücks-Utopien

Später wurden in Thomes meisterhafter Goethe-Adaption "Tarot" (1985) oder in der hinreißenden Komödie "Das Mikroskop" (1987) edler Rotwein und Grappa aus der Toskana getrunken. Das "laisserfaire" war verschwunden, die Gammelei längst vorbei, man lebte als Filmregisseur, Computerprogrammierer, Jungphilosoph oder als Kinobesitzer wie in "JustMarried" (Kinostart am 24. September), Thomes jüngstem Film, der praktisch zeitgleich entstand mit "Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan". In 30 Jahren hat Thome alle Zeitgeister in mittlerweile 18 langen und sechs kurzen Filmen festgehalten, für die gemeinsame Erinnerung geformt. Um Glücks-Utopien, meist beiläufig durchgespielt, selten prononciert, geht es noch immer.
Im eigenen Land stand Rudolf Thome lange im Schatten von Kollegen wie Fassbinder und Herzog, gegen die seine Filme erfreulich undeutsch wirken. Womöglich liegt das an ihren lakonischen Erzählweisen, die eher aufs präzise Dokumentieren von Alltagssituationen gerichtet sind als auf ausdrückliche Botschaften. Nach einer Vorführung von "Rote Sonne" war Wim Wenders 1970 verzückt durch die Möglichkeit, 90 Minuten lang nichts als die Oberfläche einer "amerikanischen Haltung" auszubreiten.

Thome war Liebling einer Berliner Kritik, deren Begeisterung sich an "Berlin Chamissoplatz" (1980) und "System ohne Schatten« (1982/83) entzündete. Männliche Kritiker haben Gedichte und Hommagen an Thome geschrieben, die vom "Thome-Bazillus" sprechen und in denen es darum geht, wie jemand den Gang von Marquard Bohm ausprobiert. Von Frauen liest man solche Elogen nach wie vor selten. Ihrer Kritik weicht Thome jedoch nicht aus, wie man auch im Internet nachlesen kann: Unter www.moana.de führen er und Petra Seeger ein aufschlußreiches Gespräch zu "Just Married”.

Handkamera statt Cinemascope

Der Film wurde in langen, ungeschnittenen Plansequenzen mit der Handkamera gedreht - eine Entscheidung des jungen Kameramannes. Thome sieht die Handkamera als guten Ersatz für das früher von ihm mehrfach verwendete Breitwandformat: "Bei CinemaScope ist man auch bei einer Zweiereinstellung nah an den Personen und sieht genau, was in den Gesichtern passiert. Und bei Cinemascope kommt noch dazu, man sieht etwas von der Umgebung, dem Raum, in dem sich die Leute bewegen. Bei der Plansequenz ist es genau das gleiche.”

Thome ist der wunderliche Realist geblieben, der die Wirklichkeit weniger präpariert als präsentiert. Das Zufällige in einem Film, einfache Gesten, sind das eigentlich wichtige. Entscheidend ist, wie die Story erzählt wird. Heute ist Thome dieser Haltung nicht mehr in aller Konsequenz treu, seine Interessen haben sich ein wenig zum psychologischen Erzählen verschoben. Seine ironische Haltung, voller verhaltener Komik, hat sich erhalten.
Rolf Aurich in "Berliner Zeitung"

Die Auseinandersetzung mit dem Publizisten Thome steht noch aus. Schon in seinen frühen Texten lassen sich Spurenelemente jener Haltung finden, die später in den eigenen Filmen wiederkehren. "Jedes Drehbuch enthält von vornherein eine Unzahl allgemein-menschlicher Themen", schrieb er einmal über einen Film von Jean-Pierre Melville. Auch seine eigenen Arbeiten bleiben stets offen für allerlei Perspektiven, bieten gerade keine besondere Interpretation an. Die Filme und ihre Figuren lassen sich nicht unmittelbar an der "Realität" messen, obgleich sie aus unzähligen Alltagsbeobachtungen komponiert sind. "Kunst erfordert nicht notwendig eine nonkonformistische Gesinnung", schrieb Thome einmal über den Regisseur und Autor Buster Keaton. Man könnte das manchmal auch über Thome sagen.
"Wer hierzulande nach der inszenatorischen Leichtigkeit der Nouvelle Vague sucht, landet unweigerlich bei Rudolf Thome: In den 1960er Jahren demonstrierte er in Filmen wie "Detektive" und "Rote Sonne" einen ungebremsten Stilwillen und vereinte dabei virtuos gestaltete Vignetten und gebrochene Genrezitate zu bis heute aufregenden Episoden der deutschen Filmgeschichte. Dass Thome immer noch zu den pointiertesten Beobachtern menschlicher Beziehungen gehört, beweisen indes jüngere Kinokleinode wie "Frau fährt, Mann schläft". Am 14. November feierte Rudolf Thome seinen 68. Geburtstag – wir gratulieren!" (Filmportal.de)



Rudolf Thome bei den Dreharbeiten zu "Pink" (2007)

Die Sonne macht uns schön
Dem Kino-Einzelgänger zum Siebzigsten

„Komm, wir fahren nach Marokko in die Sonne. Die macht uns schön und glücklich und zu besseren Menschen“, sagt Thomas (Marquard Bohm) zu Peggy (Uschi Obermaier) in „Rote Sonne“ (1989). Die beiden werden nicht nach Marokko fahren. In Peggys Frauen-WG, in der sich Thomas gleich mit vier Frauen im Bett tummeln darf, gilt die Regel, dass Männer spätestens nach der fünften Liebesnacht umgebracht werden müssen. So fahren Thomas und Peggy zum finalen Showdown an den Starnberger See. Ein Pas de deux des Todes am Ufer. Wasser: das Lieblingsmotiv Rudolf Thomes. Im Wasser spiegeln sich Liebes- und Todessehnsucht zugleich. Und über dem See geht blutrot die Sonne auf.

Gute Regisseure haben viele Ideen und Themen, erzählen vielfältige Geschichten. Große Regisseure, wie Thome, haben ein Thema, ihr Thema. Thomes Thema ist die Liebe, also die Einsamkeit und das Bekenntnis, das Marquard Bohm in „Rote Sonne“, Thomes frühem Meisterwerk, so formuliert: „Ich kann nicht allein sein!“ In Thomes œuvre, bislang 26 Spielfilme, wird das schrecklich-schöne Thema Liebe so unablässig und konsequent erforscht, dass es im hiesigen Kino die große Ausnahmeerscheinung bildet, vergleichbar am ehesten noch mit der Geschlossenheit von Rohmers Werk. Alle Spielarten der Liebe: von der Liebe auf den ersten Blick bis zur Ehe als „Grab der Liebe“, von der Liebe als Erlösungssehnsucht bis zum Liebesverrat, der einer kosmischen Katastrophe gleicht.

Dass Thome, Verehrer der Filme von Howard Hawks, seine Liebesgeschichten mit „starken Frauen“ bevölkert, ist bekannt, er zeigt sie märchenhaft als Liebesgöttinnen und zupackend realistisch als selbstbewusste, gut geerdete Sucherinnen nach dem Lebensglück. Wie aber sehen seine Männer aus? Oft genug erweisen sie sich als traumtänzerische Dilettanten der Liebe und leiden an der typischen Männerkrankheit: Selbstzweifel und Selbstmitleid. Das Spannende aber an Thomes Männerfiguren ist ihr Doppelgesicht: Dandy und Asket. Sein prototypischer Dandy ist der Held aus „Rote Sonne“, sein markantester Asket der Philosoph im gleichnamigen Film von 1989. Im Idealfall finden beide Seiten – wahrheitssuchende Grübelei und weltmännische Gewandtheit – zusammen. So in dem von Hanns Zischler verkörperten Filmemacher in „Tarot“, einer auf Goethes „Wahlverwandtschaften“ basierenden Geschichte.

Thomes „Philosoph“ muss von drei veritablen Liebesgöttinnen erst in die „dionysischen Künste“ eingeweiht werden. Johannes Herrschmann, der – wie Hanns Zischler – zur „Darsteller-Familie“ Thomes gehört, konturiert ihn zunächst als Inbild eines verkrochenen Stubengelehrten, der seine Sentenzen immer etwas gespreizt artikuliert: „Das Leben gibt den Frauen recht, der Tod den Männern“. Er hat – wie könnte es anders sein – seine Dissertation über Heraklits Wort „Alles fließt“ verfasst und zeigt sich als gelehriger Schüler beiseiner Initation in all die schönen Dinge des Daseins: Wein, Weib, Tanz. Zum Schluß wird an einem Se bei aufgehender Sonne getanzt. Ein märchenhaftes Glücksbild, das Pendant zur Schlussszene von „Rote Sonne“. Die Bilder von Glück und Versöhnung verdichten sich in den späteren Thome-Filmen. In „Du hast gesagt, dass du mich liebst“ (2005) finden sich ein Mann und eine Frau, die „füreinander geschaffen“ sind. Wenn die beiden zum Schluss gen Süden in die aufgehende Sonne fahren, flüstert die Frau: „In Marokko scheint die Sonne, sie macht uns schön und glücklich.“

Thome gehört zur Generation des „Jungen Deutschen Films“, geriet aber nie so ins Rampenlicht wie seine Kollegen Wenders, Herzog, Fassbinder. Sein Motto: „Ich mache Dokumentarfilme über Schauspieler, die Szenen aus einem Drehbuch spielen.“ Irgendwann sollte auch der Deutsche Filmpreis davon Kenntnis nehmen. Am Samstag feiert Thome seinen 70. Geburtstag.

Rainer Gansera, Süddeutsche Zeitung, 14. 11. 2009


Ein zärtlicher Genießer
Der Berliner Filmemacher Rudolf Thome wird am Sonnabend 70 Jahre alt

Wenn eines Tages jemand fragen würde, wem die Ehre zukäme, der sinnlichste Regisseur des deutschen Kinos zu sein - dann nähme Rudolf Thome vermutlich einen Spitzenplatz ein. Seinen Filmen sieht man an, dass er das Leben, die Frauen und das gute Essen im Kreise vieler Freunde liebt - und dazu immer den passenden Wein. Rudolf Thome ist nicht allein ein Seismograph menschlicher Beziehungen sondern auch ein Hedonist.

Seit über vierzig Jahren erzählt er stets die gleiche Geschichte. Er philosophiert mit heiter-ironischer Gelassenheit über die utopische Sehnsucht nach der großen Leidenschaft und erschafft Versuchsanordnungen von merkwürdigen, meist schwachen Männern und umso stärkeren Frauen. Die Kritik nennt Rudolf Thome einen "wunderlichen Realisten". Er ist in seiner Herangehensweise romantisch, ohne sentimental zu sein. Verspielt, naiv, rätselhaft. Frei von sozialkritischen Ambitionen und Thesen. Und er arbeitet ohne große Budgets. Dabei gehört es zu den Merkwürdigkeiten von Thomes Universum, dass er als einziger deutscher Autorenfilmer ein Dauerabonnement auf finanzielle Unterstützung bei der knallhart auf Fernsehkitsch abonnierten Firma Degeto zu besitzen scheint. Wer Thome kennt, der ahnt, dass auch das vielleicht mit einer erotischen Geschichte zu tun haben könnte.

Dem Glück auf der Spur
Am 14. November vor siebzig Jahren in Wallau an der Lahn geboren, kam Rudolf Thome über seine Begeisterung für die Filmklassiker von Howard Hawks zum Kino. "Ich liebe diese einfache Art des Erzählens", gab er damals zu Protokoll - und machte sie sich zu eigen. Nach einigen kurzen Arbeiten debütierte er 1968 mit "Detektive", einem Film, in dem es um Geld ging, "das die Alten haben und die Jungen haben wollen". "Rote Sonne" (1969) mit Uschi Obermeier als Mitglied einer Münchner Mädchenkommune, die ihre Bettgefährten nach jeweils fünf Nächten liquidiert, hob dann ab in die Sphären von Traum und Alptraum. Dass sich Rudolf Thome gleich mehrfach Goethes "Wahlverwandtschaften" zuwandte, war danach kein Zufall mehr: Die Suche nach einem Partner und nach sich selbst, zelebriert unter inselhaften Bedingungen und gesehen wie unter einem Mikroskop, prägte auch die Dramaturgie vieler seiner späteren Filme.

Immer wieder, auch in seiner bisher jüngsten Arbeit "Pink" (2009), fahndet er nach dem, was Glück bedeuten könnte. Seit der deutschen Vereinigung dreht er vornehmlich auf dem Land in Brandenburg. Er nutzt alte Gutshöfe und andere idyllische Exterieurs, in denen er, wie in "Liebe auf den ersten Blick" (1991), Ost und West aufeinander treffen - oder auch mal einen Abgesandten aus dem fünften Jahrtausend landen lässt: "Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan" (1997) hieß jenes moderne Märchen über den Sinn des Daseins und das Bedürfnis nach Harmonie - vielleicht seine schönste Geschichte der letzten Jahre. Wer über das, was Rudolf Thome nun umtreibt, noch mehr erfahren will als aus all diesen Filmen, der erhält mit Hilfe seiner Webseite www.moana.de ausgiebig Gelegenheit dazu. Thomes Pläne und Hoffnungen, auch manche Ängste sind hier - etwa in Tagebuchform und in angemessener Eitelkeit - ausgebreitet. Das nächste Filmprojekt ist bereits annonciert; es trägt den Titel "Das rote Zimmer". Und auch auf eine Monographie wird hingewiesen, die eigentlich zum 70. Geburtstag vorliegen sollte und nun wegen des säumigen Herausgebers doch verspätet herauskommt. In einem solchen Fall kann Rudolf Thome auch mal sarkastisch werden. Während in seinem Kino stets das Zärtliche überwiegt.

Ralf Schenk in “Berliner Zeitung” 14. 11. 2009


Unter Frauen
Regisseur Rudolf Thome zum 70. Geburtstag

Als junger Mann hatte Rudolf Thome einen ungewöhnlichen Filmgeschmack. Ihm gefielen die Spätwerke von Fritz Lang, Jean Renoir und Charles Chaplin, die bei anderen nur trauriges Kopfschütteln verursachten. Thome hatte eine Ader für das Langsame, Abgeklärte. Man kann auch sagen: Statt sich vor dem Älterwerden zu fürchten und dagegen anzukämpfen, hat er sich schon als junger Mann darauf vorbereitet. Heute feiert er seinen 70. Geburtstag.

Für einen Außenseiter, dessen leise, verspielte Filme ohne großen Werbeaufwand in die Kinos kommen, hat er erstaunlich viel Kritik einstecken müssen. Er polarisiert, obwohl er nie kontroverse Themen angepackt hat. Kein Film gegen Springer oder Strauß, über Berufsverbote oder die Anti- Atomkraft-Bewegung. Keine quälenden Dramen, keine Hysterie, kein Zynismus. Dennoch hat er Gegner, die ihm vorwerfen, seine Filme seien zu langsam. In ihnen wird zu viel geredet. Die Liebesgeschichten sind bloße Versuchsanordnungen. Ihn interessiere als Milieu nur die gebildete Oberschicht („Toskana-Fraktion“). Kaum einer seiner Filme kommt ohne ein Picknick im Freien aus, fast immer wird Rotwein getrunken.

Man kann sich schlimmere Einwände vorstellen. Auch über seine Selbstdefinition als Feminist lässt sich streiten. Was letztlich zählt, ist der radikale Individualismus. Von ihm kam er auch nicht durch die Zusammenarbeit mit Hannelore Elsner ab, die als Teil der Bambi-Schickeria einer gänzlich anderen Filmwelt zugerechnet wurde. „Rot und blau“ (2003) war der erste von fünf gemeinsamen Filmen; der Regisseur hatte eine neue Muse. Das wilde, hippe München der 60er Jahre hat beide geprägt. Hier entstanden Thomes frühe, immer noch bekannteste Filme: „Detektive“ (1968), „Rote Sonne“ (1969), „Supergirl“ (1971). Sie wirken heute wie Fremdkörper in seinem Werk, mit ihren Anleihen beim US-Genrekino, den flotten Autos, den glamourösen Jungstars Uschi Obermaier und Iris Berben.

Ausgerechnet in den 70ern, als der Neue Deutsche Film seine großen internationalen Erfolge feierte, verstummte Thome. Jedenfalls als Regisseur. Er zog nach Berlin, fand Arbeit beim Arsenal, war Mitautor einer Monografie über Roberto Rossellini und schrieb Kritiken für den Tagesspiegel. Zwischendurch verdiente er Geld auf dem Bau. Und er war Kreditsachbearbeiter bei einer Bausparkasse. Thome hätte nie so lange in der Filmbranche durchgehalten, wenn er nicht gut wirtschaften und Geld auftreiben könnte.

Mit „Berlin Chamissoplatz“ (1980) gelang ihm mehr als nur ein Comeback. Thome war jetzt der Chronist des Westberliner Bildungsbürgertums. Filme wie „Tarot“ (1986, nach Goethes „Wahlverwandtschaften“), „Das Mikroskop“ (1987), „Der Philosoph“ (1988) und „Sieben Frauen“ (1989) beleuchteten das Liebesleben kultivierter Männer, die meist von ihren Frauen zärtlich umsorgt und von Hanns Zischler verkörpert wurden. Die gesellschaftliche Realität war durchaus gegenwärtig, aber für Thome stand immer der Mensch mit seinen Gefühlen im Vordergrund. Er ist kein Regisseur, der Geschichte schreiben will. Mit seinen kleinen Geschichten hat er das längst getan.
Frank Noack im “Tagesspiegel”, 14. 11. 2009


Zum CARGO-Interview Teil 1

"Mit 71 Jahren und nach 28 Langfilmen wird Rudolf Thome in Texten zu seinem jüngsten Film DAS ROTE ZIMMER noch immer als "großer Unbekannter" des deutschen Kinos bezeichnet. Das nimmt dann doch Wunder. So kontinuierlich wie er hat kaum einer unter all denen, die in den Sechzigern anfingen, andere deutsche Filme zu machen, arbeiten können. Der eine oder andere Klassiker ist durchaus dabei, etwa ROTE SONNE (1970), in dem Uschi Obermaier & Co mit manchem Mann kurzen Prozess machen. Oder die Kreuzberger Gentrifizierungs-Liebesgeschichte BERLIN CHAMISSOPLATZ (1980), in der Hanns Zischler aufs Ergreifendste ein Lied für Sabine Bach singt. Mit Der Philosoph feierte Thome Erfolge im europäischen Ausland, ohnehin war man ihm an Frankreich zeitweise stärker zugeneigt als in seiner Heimat.
Dennoch kann man nur staunen, wie sehr sein Werk, so sanft es daherkommt, Publikum und Kritik polarisiert. An begeisterten Stimmen hat es niemals gefehlt, an Kopfschütteln auch nicht. Gründe gibt es, versteht sich. Insbesondere in Deutschland ist zwischen den Stühlen, auf denen Rudolf Thome nicht sitzt, traditionsgemäß wenig Platz. Seine Filme gehorchen keiner bekannten Konvention und sind von allem sichtbaren Avantgardismus doch weit entfernt. Der Alltag steht ihnen durchweg näher, noch da, wo es weit weg auf eine Insel im Pazifischen Ozean geht. Politische Filme macht Rudolf Thome nicht, seine Utopien sind, wo es sie gibt, privater Natur, seine Kühnheiten ästhetischer, aber stets sehr unaufdringlicher Art. Er ist ein liebevoll ironischer Beobachter von Menschen, der seine Darstellerinnen und Darsteller liebt. Das ist ein Realismus eigener Art: Nicht der Plot zählt, sondern das, was er möglich macht: an Überraschungen, Gefühlen, Aktionen und Reaktionen der Figuren. 
Bei allen Brüchen, die sein Werk aufweist, bleibt der Ton, den Thome anschlägt, doch immer sehr eigen. Obwohl er nie verschwiegen hat, wen er verehrt. Seine erklärten Vorbilder und/oder Lieblingsregisseure waren von Anfang an Howard Hawks, der klassischste aller klassischen Hollywood-Regisseur, Yasujiro Ozu mit seinen im Ton unterspielten, formal so kühnen wie strengen Alltagsgeschichten und der Jean-Luc Godard vor allem der Sechziger Jahre. Auch Roberto Rossellini ist wichtig, für den blauen Hanser-Band zum Werk des Regisseurs hat Thome als Quasi-Monografie sämtliche Texte zu den einzelnen Filmen verfasst. (Wie sehr Thome sich bis heute von Neuentdeckungen begeistern lässt, kann man in seinen Texten zu Hong Sang-soo in CARGO 08 und seinem Blog nachlesen.)
Zu den Brüchen, um die es auch in unserem Werkgespräch geht: Mit den Freunden Max Zihlmann und Klaus Lemke beschließt er im München der Sechziger, Filme zu machen. Zuvor hat er Literatur und Philosophie studiert und als Filmkritiker gearbeitet. Letzteres wird er übrigens bis in die Mitte der Siebziger sehr fleißig tun, für die Filmkritik, die SZ, den Tagesspiegel, das Berliner Stadtmagazin Hobo (Vorgänger der Zitty). Nach ersten Kurzfilmen entstehen mit DETEKTIVE (1968), ROTE SONNE (1969) und SUPERGIRL (1970) nachmals zu etwas wie Kultstatus aufgestiegene Anverwandlungen der Nouvelle Vague, alle nach Drehbüchern von Max Zihlmann, alle haben Genre-Elemente, machen sich aber nicht wirklich was draus. Ein vierter Langfilm - FREMDE STADT (1972) - wird noch in München gedreht, das Finanzierungskonzept geht nicht auf. Rudolf Thome ist hoch verschuldet und flieht nach Berlin.
Dort arbeitet er fürs Arsenal und dreht mit fast keinem Geld drei Filme, die sich in ihrem Charakter stark von den Vorgängern unterscheiden. Sie sind weitestgehend improvisiert, aus dem geplanten Bankraubfilm  MADE IN GERMANY UND USA (1974) wird so ein den Ozean überquerendes Beziehungsdrama der anstrengenden, aber ziemlich aufregenden Sorte. Der Nachfolger TAGEBUCH (1975) ist aus vielen Gründen interessant. Die erste von zwei Wahlverwandschaften-Verfilmungen (Goethes Roman ist ein Schlüssel zu vielen Motiven in Thomes Werk), in der noch dazu Rudolf Thome die männliche Hauptrolle des Eduard spielt. In Wahrheit weniger eine Verfilmung als eine deutsch-englische Improvisation über die Themen des Goethe-Romans, angesiedelt in einem kargen Loft in Berlin-Kreuzberg.
Für BESCHREIBUNG EINER INSEL (1977/8) begaben sich Thome, seine Ko-Regisseurin Cynthia Beatt, die Schauspieler und das Team für ein halbes Jahr auf die Hebriden-Insel Ureparapara und brachten eine dokumentarische Fiktion davon mit. Heraus kam "ein ethnographischer Spielfilm, ein Film, in dem Ethnographie mitspielt" (Frieda Grafe). (In einem ganzen Heft der Filmkritik war das Projekt vor seinem Entstehen bereits skizziert worden. Vieles ging, wie man da nachlesen kann, anders aus als gedacht.)
Ein weiterer Neuanfang ist der letzte Film, um den es in diesem ersten Teil des Interviews geht: BERLIN CHAMISSOPLATZ (1980). Hier gab es wieder ein festes Drehbuch, das Thome selbst mit Jochen Brunow - seinem einstigen Kritikerkollegen von Hobo - verfasst hat. Erstmals taucht hier Hanns Zischler auf, der in vielen der folgenden Filme kleine (etwa gerade in DAS ROTE ZIMMER) und große Rollen spielen wird. 
Entstanden ist das Interview an einem Sonntag im Dezember auf Rudolf Thomes Bauernhof im brandenburgischen Niendorf. Das untere Ende des Mikrofons, das wir in Clip neun und Clip zehn im Bild hängen gelassen haben, gehörte übrigens nicht zu uns. Serpil Turhan (und Tonmann Binge Bingül) haben das Interview mitgefilmt, für eine im Entstehen begriffene Dokumentation über den Regisseur, als dessen Regieassistentin Turhan zuletzt oft gearbeitet hat.
Ekkehard Knörer, CARGO


Knapp neben dem Leben: Die Filme von Rudolf Thome
Notizen über ein Werk und sein Verschwinden.

In Rote Sonne (1970) verliebt sich Marquard Bohm in Uschi Obermeier. Die sollte ihn eigentlich umbringen, das sind die Regeln ihrer militanten Wohngemeinschaft, der Bruch der Regel treibt das Drama an und seinem blutigen Ende entgegen. In Das rote Zimmer (2010) verliebt sich Peter Knaack gleichzeitig in Katharina Lorenz und Seynep Saleh. Das bringt zwar Komplikationen, umgebracht wird aber niemand. Ein Liebesvertrag regelt die Einzelheiten, die Regeln werden angepasst, das Drama fällt aus. Der Regisseur beider Filme heißt Rudolf Thome.

Zwischen beiden Filmen, Thomes zweitem und dem bisher letzten, liegen zwei Dutzend weitere und 40 Jahre. Was liegt noch dazwischen? Aus dem Regisseur, der einst einen der wenigen genuinen deutschen Kultfilme gedreht hat, ist ein Außenseiter geworden, der nur noch für einen ständig kleiner werdenden Kreis eingeschworener Liebhaber zu drehen scheint. Noch einmal – oder, aus der Perspektive einer jüngeren Generation: zum ersten Mal – die Thome-Filme, alle Thome-Filme zu sehen, das ist heute umso richtiger und umso schöner. Schließlich gibt es im deutschen Kino kaum ein anderes Werk, das ähnlich umfangreich wäre, und erst recht kaum einen anderen ähnlich persönlichen, dichten Werkzusammenhang.

Was heute ein Thome-Film ist, bildet sich in den ersten zwei Jahrzehnten der Karriere langsam heraus, ist aber spätestens 1986 ganz und gar da. Seit Das Mikroskop spielen die Filme in ihrem eigenen Universum. Es gibt ein Thome-Stammensemble (das allerdings erstaunlich anschlussfähig ist, siehe die Hannelore-Elsner-Serie Mitte der 00er-Jahre), es gibt Thome-Figuren, -Motive, -Orte, -Situationen, -Milieus. Sieht man von Modischem ab, von Kleidern, Frisuren, Autos, Kommunikationstechnik, könnte Das Mikroskop auch 2010 gedreht worden sein und Das rote Zimmer 1986.

Zeitlos sind die Filme trotzdem nie, sie lassen die Welt und ihre Veränderungen am Rand, an der textuellen Peripherie mitlaufen, in Fernsehsendungen, Zeitungsschlagzeilen, Nebenhandlungen (der Terrorplot in Rauchzeichen, 2006) oder durch Entwicklungen und Parallelisierungen innerhalb des Werks: In Just Married (1998) ärgert sich ein Banker darüber, dass seine Kollegen nicht in den neuen Potsdamer Platz im Zentrum Berlins investieren wollen. In zehn Jahren, prophezeit er, werde da das Leben pulsieren. Das Thome-Kino braucht dann nicht einmal diese zehn Jahre, bereits 2004, in Frau fährt, Mann schläft, dem großartigen Mittelstück der Zeitreisetrilogie, ist es in der neuen Mitte der Hauptstadt angekommen. Es geht dabei nicht um Reflexion von urbanen Entwicklungen, sondern schlicht und einfach um eine Zeitgenossenschaft von Welt und Kino. Rudolf Thome hat nie einen Historienfilm gedreht, seine Filme spielen in den Städten, in denen er lebt, oder in den Ländern, in denen er Urlaub macht; in den Clubs, die Thome-Figuren aufsuchen, läuft die angesagte Musik der jeweiligen Gegenwart. Thomes Filme sind oft ironisch, aber deswegen nicht distanziert, schon gar nicht vom Leben ihres Schöpfers; in den Filmen der späten 1990er und frühen 00er-Jahre kann man den beiden jüngsten Kindern Thomes beim Aufwachsen zusehen. Ungefiltert dringt ab den 1980er Jahren die Begeisterung des Regisseurs für Computer und digitale Technik in den Thome-Film ein; schon in System ohne Schatten von 1983 geht es um elektronischen Bankraub und die experimentelle Musik Laurie Andersons, der vorläufige Endpunkt dieser Linie ist der sehr schöne Venus Talking (2001), der fast so etwas entwirft wie ein Register digitaler Bilder, der Möglichkeiten ihrer Verwendung, durchaus auch ihrer moralischen Dimensionen. Vielleicht gibt es heute auch einfach, vor allem in den Printmedien, nicht mehr viele Möglichkeiten, angemessen über ein derartiges Kino zu schreiben. Vielleicht müsste man nicht so sehr über diese als mit und neben diesen Filmen schreiben, genau wie sie ihrerseits nicht so sehr Filme über das Leben (die Liebe, die Ehe) sind, sondern eher Filme mit Leben, Filme manchmal auch knapp neben dem Leben.

In den 1960er Jahren, als sowieso alle in München waren, war der junge Rudolf Thome von Anfang an mittendrin. Jahre bevor Fassbinder und Wenders ihre ersten Kurzfilme drehten, fanden sich Thome, Klaus Lemke und Max Zihlmann für erste Filmprojekte. Wer sonst noch zur heute legendären Münchner Gruppe gehört hat, ist nicht so einfach eruierbar. Zu den ersten Förderern zählte das Ehepaar Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, mit denen die Thome-Gruppe auf den ersten Blick zwar wenig, auf den zweiten aber die Bewunderung für alte amerikanische und neue französisches Filme einerseits, das Desinteresse am Themenkino der Oberhausen-Gruppe um Alexander Kluge andererseits teilte. Eine der sonderbarsten Anekdoten aus dieser Zeit betrifft die Entstehung von Thomes bekanntestem und erfolgreichstem Kurzfilm Jane erschießt John, weil er sie mit Ann betrügt (1968). Der wurde fast ohne Budget gedreht, auf überschüssigem Filmmaterial aus den Drehs von Lemkes zweitem Spielfilm Negresco**** – Eine tödliche Affäre und von Straub-Huillets frühem Meisterwerk Die Chronik der Anna Magdalena Bach (beide 1968). Thomes improvisiert-poppige Nouvelle-Vague-Paraphrase als Rückseite des minimalistisch-spröden Bach-Films zu sehen: Das eröffnet die deutsche Filmgeschichte noch einmal ganz neu. Straub bestand damals darauf, Jane erschießt John ... als Vorfilm zum eigenen Werk zu zeigen. Vielleicht gibt es genau das heute nicht mehr: den Glauben daran, dass das Kino ein Ganzes ist oder zumindest sein soll. Heute ist Thome in Berlin, Lemke mal in München, mal in Hamburg, Straub in Paris, und der Alltagsbetrieb des Gegenwartskinos schert sich um keinen der drei.

Es folgten dann ab 1969 in kurzer Folge vier Langfilme in München, alle nach Drehbüchern Zihlmanns. Wie Rote Sonne sind auch Detektive (1969), Supergirl – Das Mädchen von den Sternen (1971) und Fremde Stadt (1972) Genrevariationen auf den Spuren Hawks’ einerseits, Godards andererseits. In Fremde Stadt ordnet Thome eine Handvoll Figuren um die Beute eines Bankraubs, aber der Geldkoffer hat von Anfang an nicht die fatale Anziehungskraft, wie er sie in so vielen anderen Filmen vorher hatte, er bringt auch kein Unglück, am Ende wird die Beute geteilt. Die selbstfinanzierte Low-Budget-Produktion war in finanzieller Hinsicht eine Katastrophe und trieb den tief verschuldeten Thome nach Berlin. Dort entstanden Mitte der 1970er zwei sehr billig produzierte, fast vollständig improvisierte Spielfilme. Teilweise autobiografische Beziehungsarbeit im linksalternativen Westberlin, fixierte 16mm-Kamera, davor scheinbar endlose Gespräche, in denen kein Punkt gemacht wird, sondern in denen zwei Menschen Versuche unternehmen, sich erst einmal selbst zu finden und die Grundlagen der gemeinsamen Kommunikation festzulegen. Die Filme werden von den Umständen der Biografie und des Budgetplans angetrieben, nicht von einem Drehbuch. In Made in Germany und USA (1974) ist die Hauptfigur plötzlich und ohne Vorwarnung in New York; Karin Thome, die sich kurz darauf vom Regisseur scheiden ließ und deren ungeheure Nonchalance in diesem fast vergessenen Film zu entdecken eine große Freude ist, reist ihm dann hinterher. Der Film zerfällt immer mehr in Amerika-Impressionen und endet in den düsteren Gassen New Orleans’ mit einer der schönsten und bizarrsten Szenen des Thome-Kinos. In Tagebuch (1975) übernimmt Thome zum ersten und einzigen Mal die Hauptrolle in einem seiner Filme, und er spielt sich selbst, oder ein nur wenig fiktionalisiertes alternatives Selbst mit einer berührenden Ehrlichkeit, kehrt die eigene Pedanterie, die eigenen Obsessionen bedingungslos nach außen. Bis auf die semiautobiografischen Filme Philippe Garrels gibt es wenig Vergleichbares in der Filmgeschichte.

Weit weg sind Made in Germany und USA und Tagebuch, weit weg ist erst recht Beschreibung einer Insel, ein im weiteren Sinne – auch wenn der Regisseur selbst mit dieser Beschreibung nicht einverstanden war und ist – dokumentarisch inspirierter dreistündiger Film, den Thome 1978/79 gemeinsam mit seiner damaligen Lebensgefährtin Cynthia Beatt verwirklichte, von Rote Sonne. Nicht zuletzt von dessen Versprechen eines Kinos, das gleichzeitig populär und durch und durch zeitgenössisch ist. Aber obwohl er in dieser Phase seine Filme mit sehr viel weniger Geld realisierte als heute, war Thome doch noch auf eine Weise präsent, wie er es 2011 nicht mehr ist. Wenn man die im Herbst 2010 erschienene Monografie „Formen der Liebe“ zum Werk des Regisseurs liest, oder erst recht, wenn man den Thome-Band ausgräbt, den die Freunde der deutschen Kinemathek 1983 herausgegeben hatten, erkennt man, dass die breite, vielstimmige Thome-Rezeption nicht mit Rote Sonne geendet hat. Noch bis tief in die 1980er blieb der Regisseur ein wichtiger Fixpunkt in den Debatten im Feuilleton und den damaligen Filmzeitschriften. Der Diskurs hat aufgehört, seine Orte verloren, das Thome-Kino ging und geht weiter. Vielleicht hat es auf seine eigene Isolation reagiert. Dem prekären Status der Filme in der Verleihlandschaft entspräche dann die Tendenz zur Selbstverinselung der Thome-Protagonisten. Man zieht sich zurück, mal auf tatsächliche Inseln (Rauchzeichen), mal in die Provinz, in die Wiesen (schon in Tarot, 1986, danach immer wieder bis hin zum aktuellen Film Das rote Zimmer). Meistens geht es aber in solchen Bewegungen aus der Großstadt (fast immer: aus Berlin) heraus doch eher um eine durchaus produktive Form der Selbstvergewisserung beziehungsweise -neuerfindung, nicht um eine tatsächliche und endgültige Abschottung oder auch nur um einen resignierten Rückzug.

„Überleben in den Niederlagen“ heißt ein interessanter Text des Regisseurs – der noch bis in die 1980er neben seinen eigenen Arbeiten fürs Kino regelmäßig Filmkritiken in Tageszeitungen und Stadtmagazinen veröffentlichte – über seine frühen Jahre. Ein Gescheiterter war Thome allerdings schon damals, im Gegensatz zu einigen Weggefährten, nicht – und er ist es auch heute nicht. Mehr als zwei, drei Jahre liegen selten zwischen den einzelnen Filmen, eine Kontinuität, mit der höchstens noch sein allerdings unter deutlich prekäreren Bedingungen arbeitender ehemaliger Mitstreiter Klaus Lemke – ein weiterer großer Außenseiter des deutschen Kinos – mithalten kann.

Vielleicht der eindrücklichste aller Thome-Filme ist Berlin Chamissoplatz (1980). Es gibt schöne Texte zu dem Film, aus der damaligen Zeit von Hans-Christoph Blumenberg, rückblickend von der Gegenwart aus von Rüdiger Tomczak. Wenn Berlin Chamissoplatz im Laufe dieses Jahres endlich erstmals auf DVD erscheinen wird, wird hoffentlich ein breiteres Publikum feststellen oder wiederentdecken können, dass er seine Zeit und seinen Ort auf ähnliche Weise zu fassen bekommen und gleichzeitig befragt hat, wie vorher Rote Sonne das München der späten 1960er. In den ersten Filmen, die Thome in Berlin drehte, ging es zwar auch schon um die Stadt als solche, aber nicht auf dieselbe Weise wie in Berlin Chamissoplatz, wo gleich die erste Einstellung in einem Schwenk über die Dächer Kreuzbergs die Textur, die Bausubstanz zur Musik einer zeitgenössischen Punkband in Szene setzt. Später kämpfen Hausbesetzer gegen Grundstückspekulanten, doch die Liebesgeschichte, die schnell beginnt, spielt sich gerade nicht im klassischen Sinne vor diesem Hintergrund ab, sie hebt sich und den Film in ihrer sanften Dynamik aus ihm heraus und führt schließlich nach Italien. Berlin Chamissoplatz ist auch der erste Thome-Film mit Hanns Zischler, dem zweiten großen Fixpunkt im Werk neben Marquard Bohm.

Die Filmografie ist hier noch nicht einmal zur Hälfte durch. Aus all den vielen Filmen, die danach noch folgen, sei hier nur einer herausgegriffen, nicht, weil die anderen keine Erwähnung wert wären, sondern ganz im Gegenteil, weil sie nach einem anderen, eigenen Text verlangen, vielleicht am ehesten nach einer Poetologie im engeren Sinne, nach einer Auflistung und genauen Untersuchung der variiert wiederkehrenden Situationen und Figuren. Von den fünf Filmen, die Thome mit Hannelore Elsner gedreht hat, wirkt Du hast gesagt, dass du mich liebst (2006), der ebenfalls im Laufe des Jahres einen überfälligen DVD-Release erhalten wird, am intimsten. Nicht zuletzt aufgrund eines Voice-over-Kommentars, den die Hauptdarstellerin selbst über die ruhigen, souveränen Bilder spricht. Der Film beschreibt, wie sich eine alternde Frau in einen auch nicht mehr ganz jungen Mann (Johannes Herrschmann, vielleicht der zentrale Schauspieler der zweiten Werkshälfte) verliebt, der daraufhin einen Bestseller über ihre Beziehung verfasst. Am Ende dieser scheinbar simplen Geschichte, die das Verhältnis von Liebe und Kunstproduktion reflektiert, beginnt ein Baum zu sprechen, einfach so, genau wie in Das Geheimnis (1995) irgendwann einfach so Marquard Bohm vor der Tür steht und sich als Jesus Christus vorstellt, und genau wie in Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan (1998) einfach so ein Zeitreisender auftaucht und sich in der Brandenburger Provinz häuslich einrichtet.
Lukas Foerster auf critic.de