1.
Der Himmel über Berlin ist trüb und grau. Ein VW-Bus fährt durch die noch immer trostlose Landschaft im Osten von Berlin. Darüber die Anfangstitel und Musik. In die Musik mischen sich Nachrichten aus einem Autoradio.
2.
Im VW-Bus. Straßen auf dem Weg nach Adlershof. Aus dem Autoradio kommt der Wetterbericht. Auf dem Display des Autoradios sehen wir das Datum und die Außentemperatur. Der FAHRER (30) biegt in immer neue Seitenstraßen ab, wo funkelnagelneue Hightech-Bauwerke mitten in baulichen Wüsten stehen. Hinten im Wagen sitzen SUSI SÜSSMILCH (56), ANTON BOGENBAUER (56), THOMAS (18), SUSITWO (17), MARTIN (15) und LAURA (13). Alle sind feierlich angezogen, nur THOMAS trägt Pullover und Jeans. Niemand redet. Alle hängen ihren Gedanken nach. THOMAS hört Musik aus seinem Walkman. FAHRER: Wir sind gleich da.
3.
Der FAHRER führt die Familie durch einen langen Gang zur Maske.
4.
Mehrere Maskenbildnerinnen schminken die Familie. SUSI: Ich bin nervös. Ich bin noch nie in meinem Leben gefilmt worden. MASKENBILDNERIN: Sie müssen keine Angst haben. Harald Flickschuster ist der netteste Moderator, den wir haben. Haben Sie denn noch nie seine Sendung gesehen. SUSI: Nein.
5.
Im Sendestudio. Alle Familienmitglieder sitzen in bequemen roten Plüschsesseln. Im Hintergrund etwa hundert Gäste, die begeistert klatschen, als FLICKSCHUSTER mit federndem Schritt den Raum betritt und sich auf den noch freien Platz zwischen SUSI SÜSSMILCH und ANTON BOGENBAUER setzt. FLICKSCHUSTER: (strahlend, aber mit sanfter Stimme) Guten Tag, liebe Familie Süssmilch & Bogenbauer, guten Tag liebe Studiogäste. Das ist heute meine fünfhundertste Sendung. Deshalb habe ich mir gedacht, wir zeigen nicht wie sonst einzelne Menschen mit einem besonderen Schicksal, sondern wir zeigen eine ganze Familie. Am besten ihr stellt euch alle mal vor – wenn es geht, in zwei Sätzen. Wir haben leider nicht so viel Zeit. Und wir fangen mit dir, Laura, an. Denn du hast mir eine email geschickt und darin so schön beschrieben, warum du findest, daß deine Familie die glücklichste Familie in Deutschland ist. LAURA wird rot und schaut hilfesuchend zu ihrer Mutter. SUSI lächelt LAURA an und nickt ihr aufmunternd zu. LAURA steht auf. FLICKSCHUSTER: Du mußt nicht aufstehen, wenn du sprichst. Wir sind hier nicht in der Schule. Stell dir vor, wir säßen um einen großen runden Tisch bei euch zu Hause. LAURA setzt sich (etwas irritiert) wieder. LAURA: Ich heiße Laura Bogenbauer. Ich bin 13 Jahre alt und gehe in die 7. Klasse. Ich habe dir…Ihnen…geschrieben… FLICKSCHUSTER: Du kannst ruhig „du“ zu mir sagen. Wir tuen so, als wären wir hier ganz unter uns. FLICKSCHUSTER schenkt LAURA ein noch strahlenderes Lächeln. LAURA: Ich habe dir geschrieben, weil ich gerne gefilmt werde. Ich habe schon in zwei kleinen Filmen mitgespielt. FLICKSCHUSTER: Was möchtest du einmal werden, wenn du groß. Entschuldigung, du bist ja schon groß. Wenn du größer bist? LAURA (wie aus der Pistole geschossen): Schauspielerin. Wischblende.
6.
FELIX (13) sitzt im Wohnzimmer auf dem Teppich vor dem Fernseher, neben sich eine große Tüte mit Kartoffelchips und verfolgt die Talkshow. FELIX: Cool! Mama, guck mal! Das ist Laura. Auf dem Fernsehbildschirm erscheint FLICKSCHUSTER in Großaufnahme. FLICKSCHUSTER: Und jetzt kommen wir zu dir, Martin. MARTIN (sehr schnell und professionell): Ich heiße Martin Bogenbauer, bin 15 Jahre alt, gehe in die 8. Klasse und möchte Fußballspieler bei Bayern München werden. Wischblende.
7.
Im Studio. SUSITWO winkt schnell in Richtung Kamera: Hallo Hans! (zu FLICKSCHUSTER) Ich heiße Susanne Bogenbauer, bin 17, und ich will einmal Schriftstellerin werden. FLICKSCHUSTER: Mit diesen Eltern wird das bestimmt ganz leicht für dich. Worüber willst du schreiben? SUSITWO: Darüber möchte ich nicht reden. Der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der jeden Tag das liest, was ich schreibe, ist mein Freund Hans. FLICKSCHUSTER: Ein bißchen was könntest du aber auch mir und unseren Zuschauern schon verraten. Vielleicht hat dein erster Roman – ich weiß, daß du schon an deinem ersten Roman arbeitest - dann gleich zwei Millionen Leser. Was ist dein Thema? SUSITWO: Das Leben! FLICKSCHUSTER: Was ist „das Leben“? SUSITWO: Alles! Wischblende.
8.
HANS (18) liegt auf seinem Bett vor einem kleinen Fernseher und strahlt. Er wirft SUSITWO eine Kußhand zu und denkt nicht daran, daß sie ihn nicht sehen kann. Wischblende.
9.
Im Studio. FLICKSCHUSTER: Und jetzt kommen wir zu (er wirft einen Blick auf seine Notizen), zu Thomas. THOMAS: Darf ich ganz offen mit Ihnen reden? Wischblende.
10.
JENNY liegt auf dem Bauch vor ihrem Fernseher. Sie raucht eine Zigarette. FLICKSCHUSTER (im Fernseher): Dafür sind wir hier. Das war und ist das Motto meiner Sendung: Offenheit! THOMAS: Ich finde, Sie sind ein Arschloch! JENNY: Wow!!! Wischblende.
11.
Im Studio. FLICKSCHUSTER zeigt fast keine Reaktion, zwingt dann aber ein leicht gequältes Lächeln in sein Gesicht. FLICKSCHUSTER: Das war sehr offen, Thomas. Aber es ist dein gutes Recht, das Recht der Jugend, sowas zu sagen. In meiner Sendung gibt es keine Tabus! Darauf bin ich stolz. Deshalb ist meine Sendung so erfolgreich. Jetzt zu Ihnen, Herr Professor Bogenbauer. ANTON lächelt FLICKSCHUSTER zu. ANTON: Okay, ich heiße Anton Bogenbauer, bin 55 Jahre alt – gerade geworden - , - letzte Woche -, und ich habe den Lehrstuhl für Philosophie an der Freien Universität Berlin. ANTON macht eine kleine Pause und sagt dann schnell, als habe ihm jemand gesagt, daß er das sagen müsse: Ich liebe meine Kinder, und ich liebe meine Frau. FLICKSCHUSTER: Sie sind ein berühmter Mann… ANTON unterbricht FLICKSCHUSTER: Nicht so berühmt wie Sie. FLICKSCHUSTER: In 5 oder 10 Jahren kennt mich kein Mensch mehr, aber Ihren Namen – das habe ich mir sagen lassen – wird man auch in 100 oder 200 Jahren noch kennen. ANTON: Wer weiß? FLICKSCHUSTER: Ihr Beruf, Herr Professor, ist das Denken. Wie machen Sie das? Umgeben von einer Familie mit vier Kindern. Da passiert doch immer was. In Ihrem Buch „Das Zeitproblem. Gestern – Heute – Morgen“ haben Sie geschrieben (FLICKSCHUSTER blättert wieder in seinen Notizen) „Wer nicht darauf vertraut, daß die Macht der Phänomene selbst unermeßlich viel stärker ist als jene kümmerlichen Gebilde, die wir als unsere vermeintlichen ‚Begriffe’ mit uns herumtragen, der hat noch nicht angefangen zu denken, also Wirkliches aufzufassen, wie es von sich aus ist.“ Das ist ein sehr, sehr kritischer Satz. Wischblende.
12.
In einem modernen Appartment, eine ganze Wand ist voller Bücher, sitzt JULIETTE (27), eine wunderschöne Frau mit langen blonden Haaren, im Schneidersitz auf ihrem Bett und sieht Flickschusters Sendung. Sie trinkt einen Schluck Rotwein. JULIETTE: Gib’s ihm, Professor! Das ist die Gelegenheit. ANTON BOGENBAUER lächelt milde, beinahe verträumt vor sich hin. FLICKSCHUSTER: Wir kommen darauf noch zurück. Jetzt zu Ihnen, Frau Doktor Süssmilch. Sie tragen einen ungewöhnlichen Namen. Wischblende.
13.
Im Studio. FLICKSCHUSTER: Haben Sie nie daran gedacht, sich einen ‚Künstlernamen’ zuzulegen? SUSI: Ich brauche keinen Künstlernamen. Ich bin eine einfache Zahnärztin. Ich bin mit diesem Namen geboren und habe mich dran gewöhnt. Sie haben doch auch einen ungewöhnlichen Namen. Oder? FLICKSCHUSTER: Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Der Name, der in meinem Paß steht, ist Harald Müller. Aber wer will schon im Fernsehen eine Harald Müller-Show sehen! Begegeisterter Beifall vom Publikum für FLICKSCHUSTERS Offenheit. FLICKSCHUSTER: Aber warum um alles in der Welt, haben Sie sich, diesen Beruf ausgesucht. In den Zähnen fremder Menschen herumzubohren, kann doch keinen Spaß machen? Oder? Sind Sie im tiefsten Innern Ihres Herzens – eine Sadistin? SUSI denkt nach. FLICKSCHUSTER läßt das zu und wartet auf ihre Antwort. SUSI: Ich bin gern mit anderen Menschen zusammen und wenn ich kann, helfe ich ihnen. Die meisten Menschen haben schlechte Zähne… Jetzt unterbricht sie FLICKSCHUSTER und zeigt ihr sein strahlend weißes Gebiß. FLICKSCHUSTER: Würden Sie, wenn das mit Ihrem Berufsethos vereinbar ist, sich einmal meine Zähne anschauen. FLICKSCHUSTER wendet sich ihr ganz zu und öffnet seinen Mund. SUSI wirft nur einen kurzen Blick auf seine Zähne. SUSI: Ich habe hier zu wenig Licht. FLICKSCHUSTER: Könnten wir bitte mehr Licht haben? Wischblende.
14.
Hinter der Bühne. OBERBELEUCHTER: Jetzt ist er völlig durchgeknallt. Herbert, mach du das. Nimm einen Spot. Wischblende.
15.
HERBERT kommt mit einem Scheinwerfer auf die Studiobühne und richtet den Spot auf FLICKSCHUSTERS Gebiß. SUSI schaut sich nochmal FLICKSCHUSTERS Zähne an. SUSI: Außen hui und innen pfui, Herr Moderator. Fortgeschrittenes Stadium von Parodontose. Die Zahnhälse sind völlig freigelegt. Wenn sie noch ein paar Jahre zubeißen wollen – ich meine das durchaus auch im übertragenen Sinn -, rate ich Ihnen dringend: kommen Sie in meine Praxis. FLICKSCHUSTER macht seinen Mund wieder zu und lächelt gequält. FLICKSCHUSTER: Ich hab ja Ihre Telefonnummer. Aber eins sag ich Ihnen gleich, Frau Doktor: ich hasse Spritzen. SUSI: Ich kann sehr sanft sein. Fragen Sie meinen Mann! ANTON: Sie ist die beste Zahnärztin in ganz Berlin! Und das sage ich nicht, weil sie meine Frau ist. Ich kann Ihnen nur empfehlen, befolgen Sie ihren Rat. Abblende in der Kamera, die zurückfährt, so daß die gesamte Familie und die Zuschauer sichtbar werden.
16.
Aufblende in der Kamera. Eine Straße in Zehlendorf. SIRTALI (23), eine schöne junge Kurdin, hält mit ihrem alten Honda vor einer Bäckerei. Sie steigt aus und geht, ohne das Auto abzuschließen, in den Laden.
17.
In der Bäckerei wird sie von der VERKÄUFERIN mit einem herzlichen Guten Morgen-Lächeln begrüßt. VERKÄUFERIN: Wie immer? 12 Brötchen und 4 Croissants? SIRALI nickt. SIRTALI: Und einen Kaffee, damit ich wach werde. Wischblende.
18.
Vor dem kleinen Reihenhaus der Familie Bogenbauer wartet ein Möbelwagen. Der FAHRER und zwei weitere MÖBELPACKER stehen an der heruntergelassenen Ladebordwand und rauchen. SIRTALI hält mit ihrem Wagen direkt hinter ihnen. FAHRER: Sie können hier nicht halten, junge Frau. Sehen Sie nicht die Parkverbotsschilder? SIRTALI steigt aus. In einer Hand ein dickes Bündel mit Zeitungen, in der anderen die Papiertüte mit den Brötchen. SIRTALI: Keine Panik, Leute! Ich gehöre zum Haus. Sie sind eine halbe Stunde zu früh. FAHRER: Aber Ihr Wagen kann da nicht bleiben. SIRTALI: Kommen Sie mit mir ins Haus. Ich mache Ihnen erstmal einen Kaffee.
19.
SIRTALI schließt die Haustüre auf und geht gefolgt von den MÖBELPACKERN ins Haus.
20.
In der Küche. SIRTALI setzt heißes Wasser auf. SIRALI: Bitte nehmen Sie Platz. Ich wecke die Herrschaften.
21.
SIRTALI klopft leise an ANTONS Schlafzimmertür. Da keine Antwort kommt, geht sie hinein.
22.
SIRTALI streichelt sanft ANTONS Gesicht. SIRTALI: Die Umzugsleute sind da. Anton, du mußt aufwachen. ANTON öffnet die Augen. SIRTALI: Du warst toll gestern. Vor allem als du gesagt hast: Denken ist für die meisten Menschen Glücksache. ANTON: Guten Morgen, Sirtali. Wischblende.
23.
In Susi Süssmilchs Schlafzimmer. Überall stehen Umzugkartons. ANTON streichelt SUSIS Gesicht. ANTON: Guten Morgen, Susi. SUSI: Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Bist du sicher, daß Sirtali alles im Griff hat? Ich hab alle Patienten von gestern auf heute verlegt. Ich hab nicht die geringste Idee, wie ich da durchkomme. Ich bin fix und fertig. ANTON: Du schaffst das schon. Da bin ich mir ganz sicher. ANTON will aus dem Zimmer gehen. SUSI: Ahhbee? Küss mich! Du hast mich bestimmt seit einem Jahr nicht mehr geküßt! Wischblende.
24.
ANTON BOGENBAUER, im Bademantel, weckt THOMAS. ANTON: Aufwachen, mein Sohn! Telefon für dich. Es ist Jenny. THOMAS reibt sich den Schlaf aus dem Augen und richtet sich auf. THOMAS: Papa, ich hab Angst, daß ich krank werde. ANTON legt eine Hand auf die Stirn von THOMAS. ANTON: Du hast kein Fieber. Das ist nur die Aufregung. Deine Mutter hat auch nicht geschlafen. THOMAS steht auf, umarmt seinen Vater und legt den Kopf an seine Brust. Ganz zärtlich. Beide verharren einen Moment so. Wischblende.
25.
Im Wohnzimmer sitzt ANTON BOGENBAUER, rasiert und angezogen. Überall im Zimmer stehen aufeinandergestapelte Umzugskartons. ANTON trinkt Kaffee und überfliegt die Schlagzeilen der Tageszeitungen, die SIRTALI mitgebracht hat. Neben ihm sitzen SUSITWO und LAURA, beide noch im Bademantel. LAURA: Papa, ich freue mich schon so auf mein neues Zimmer! Jetzt sind wir da, wo das richtige Leben ist! SUSITWO: Baby, vergiß nicht, das Zimmer rechts vom Bad ist mein Zimmer. Ich komme heute nämlich erst nachhause, wenn ihr schon alle eingezogen seid! MARTIN, tipptopp angezogen, kommt mit SIRTALI ins Wohnzimmer, setzt sich, trinkt einen Schluck aus seiner Tasse, schnappt sich ein Croissant. MARTIN (zu SIRTALI): Sag den Möbelpackern, daß sie mit meinem Computerkarton vorsichtig sein sollen. Ich hab auf allen Seiten einen dicken roten Totenkopf gemalt. SIRTALI: Keine Sorge, ich paß schon auf.
Zwei Möbelpacker kommen ins Wohnzimmer. SIRTALI deutet auf eine schwere Kommode: Ich schlage vor, Sie transportieren jetzt erstmal dieses Teil. Wischblende.
26.
SUSI SÜSSMILCH steht im Badezimmer, fertig angezogen, und schminkt sich seelenruhig –als ginge sie das, was um sie herum passiert, gar nichts an. Das Haus ist voller Geräusche – wie ein aufgeregter Bienenschwarm, alle rennen herum, schwere Gegenstände werden transportiert und wieder abgesetzt, kurze Kommandos der Möbelpacker, das Telefon klingelt. Wischblende.
28.
THOMAS sitzt mit JENNY in einem Café. Sie reden lange nichts. Nach einer Weile sagt THOMAS: Ich bin heute nicht so gut drauf. Können wir ‚das Miteinander-Reden’ nicht auf ein anderes Mal verschieben? JENNY: Nein. Ich spüre, daß du dich veränderst. Ich will nicht darauf warten, daß du mir sagst: Hi Baby, ich hab’s mir überlegt, alles ist so kompliziert zwischen uns geworden – das Beste wäre, wir würden uns ein paar Wochen nicht mehr sehen – ich sage dir das, weil ich das alles spüre! THOMAS reagiert nicht. JENNY: Mein Vater sagt immer, wenn es am schönsten ist, muß man aufhören. THOMAS: Ich liebe dich. Das weißt du. Gib mir noch eine Chance! JENNY sagt (betont überlegt und langsam): Du liebst nicht mich, so wie ich wirklich bin, sondern meine Schönheit. Wischblende.
29.
Ein Hörsaal in der Universität. ANTON BOGENBAUER hält seine Vorlesung. Etwa 50 Studenten, darunter JULIETTE, sind anwesend. ANTON (spricht sehr langsam und sehr betont): Vernunft wird dadurch möglich, daß der ins Universum ausgesetzte Mensch seine Vergangenheit erinnern und seine Zukunft in ihrer Offenheit antizipieren kann: sie entspringt daraus, daß der Mensch weiß, daß er in der Zeit ist. (Pause) Woher kommt dieses Wissen? Platon sagt, den übrigen Menschen bleibe verborgen, daß diejenigen, die wahrhaft nach Erkenntnis streben – die Philosophen – nach dem Tode streben. Phaidon 64 A – ich bitte Sie, das nachzulesen! - An diesen Satz knüpft sich eine große Tradition der europäischen Philosophie, die bis zu Heideggers ‚Sein zum Tode’ führt. Ihre Quintessenz ist die Erkenntnis, daß der Mensch weiß, daß er in der Zeit ist, weil er das Lebewesen ist, daß im voraus weiß, daß es sterben wird. Der Tod ist der Austritt aus der Zeit. Wenn wir im Vorblick auf den Tod zu leben haben, besitzen wir dadurch ein Wissen, das uns inmitten der Zeit von der Zeit distanziert. Nur aus Distanz ist Erkenntnis möglich. Wischblende.
30.
Im Büro von ANTON BOGENBAUER. JULIETTE umarmt ANTON und küßt ihn zärtlich. JULIETTE: Professor ich muß dir etwas gestehen!? ANTON: Was? JULIETTE setzt sich in einen Stuhl vor seinen Schreibtisch. JULIETTE: Rate! ANTON: Ich bin nicht gut im Raten. Sag schon, was los ist! Hast du dich in einen Kommilitonen verliebt? Etwa jemand aus meiner Vorlesung? JULIETTE lächelt ANTON an und schüttelt den Kopf. ANTON: Ich weiß nicht, was du meinst. JULIETTE: Du bist der klügste Mann, den ich kenne, aber du kommst nicht auf die einfachste Idee. ANTON überlegt. JULIETTE: Denk mal an die Zukunft. Davon hast du doch vorhin so schön geredet. Ich bin eine Frau. – Ich krieg ein Kind. ANTON hat sich wieder gefaßt. ANTON: Von so einem alten Knacker wie mir. JULIETTE: Das werden die klügsten Kinder. ANTON: Was findest du bloß an mir? JULIETTE: Denken ist sexy. Wischblende.
31.
In der Zahnarztpraxis. SUSI SÜSSMILCH reinigt die Zähne von SVEN HEDIN (48). SVEN verzieht das Gesicht. Es tut weh. SUSI: Nur noch fünf Minuten. SVEN: Ich fliege morgen zu unserem Observatorium in Südamerika. SUSI schickt die ZAHNARZTHELFERIN nach draußen. SUSI: Was, morgen schon? SVEN: Ja. Mein Abflug wurde um zwei Wochen vorverlegt. SUSI ist traurig, dann faßt sie einen Entschluß: Laß uns raus fahren aus Berlin. Ich muß mit dir reden. Ich sage alles hier ab. Ich hab deine Abreise total verdrängt. Hast du Zeit? SVEN: Ich kann sie mir nehmen. Genau wie du. SUSI: Okay, das ist jetzt das Wichtigste auf der ganzen Welt. Mein Gott, wieso passiert immer alles gleichzeitig! Wischblende.
32.
SUSI SÜSSMILCH und SVEN HEDIN gehen wie Kinder händchenhaltend im Wald spazieren. SUSI: Das was zwischen uns passiert, ist wie ein Märchen. SVEN: Es ist kein Märchen, es ist Wirklichkeit. SUSI bleibt stehen, schaut SVEN an. Prüfend. Wissend. SUSI: Du hast recht. Sowas wie mit dir ist mir seit 25 Jahren nicht mehr passiert. Ich hab das Gefühl, das ist ein Zeichen der Götter – (SUSI schaut in den Himmel) – an die ich nicht glaube, daß sie mir etwas sagen wollen. SVEN: Dann hör auf sie. Auch wenn du nicht an sie glaubst. SUSI: Meine Kinder sind groß. Ich könnte ihnen das erklären. Sie brauchen mich im Grunde nicht mehr. Sie sind bei Anton gut aufgehoben. Der ist so sensibel. Ich glaube, daß er alles weiß. SUSI und SVEN gehen weiter.
33.
SUSI und SVEN kommen an einen versteckten, kleinen Waldsee und gehen ans Wasser. SVEN: Ich weiß alles über das, was im ganzen Universum passiert. Ich kenne jedes bekannte Sternsystem, jede Milchstraße und jedes schwarze Loch. Aber ich weiß nichts, so gut wie nichts über dich. SUSI (lächelt ihn herausfordernd an): Frauen sind eben noch unerforschlicher als Sternsysteme. Du müßtest dein Fernrohr mal auf mich richten. SVEN verzieht sein Gesicht zu einem Lächeln. SUSI: Vielleicht sollten wir alles so lassen. Wenn du in einem halben Jahr zurückkommst, ist alles bestimmt klarer. Dann SEHEN wir beide klarer: das was ist, das was wir wollen. SUSI küßt SVEN lange. Wischblende.
34.
SUSITWO und HANS, beide tragen ihre Rucksäcke, verlassen das Schulgebäude.
35.
Ein großer Park in der Stadt. Überall blühen die Forsythien. Auch ein paar Bäume haben schon grüne Blätter. SUSITWO und HANS gehen händchenhaltend einen Parkweg entlang.
36.
Sie kommen zu einer Parkbank. Die Sonne kommt für einen Moment aus den Wolken hervor. HANS setzt sich auf die Parkbank und zieht SUSITWO mit sich. Sie legen ihre Rucksäcke ab. HANS: Weißt du, daß ich dich liebe? SUSITWO: Nein! HANS umarmt SUSITWO. Sie wehrt sich nicht. Er nähert sich ihrem Mund. SUSITWO schließt ihre Augen und öffnet ihren Mund. HANS (ganz leise): Du mußt den Mund zumachen beim Küssen - und die Lippen ganz weich machen. SUSITWO: Ich kenn mich da nicht so gut aus wie du. Beide küssen sich ganz vorsichtig. HANS (nach dem Kuß): Das war gar nicht so schlecht für den Anfang. (Pause) Hast du noch nie einen Jungen geküßt? SUSITWO: Nein. Wischblende.
37.
Es ist noch immer Tag, der Himmel ist voller Wolken. Ein Hochhauskomplex. Im Vordergrund das Hochhaus, in dem die Familie Bogenbauer & Süssmilch ab jetzt wohnen wird. (Hochhaus-Totale).
38.
LAURA richtet ihr Zimmer in der Hochhauswohnung ein. Vom Fenster aus hat man einen weiten Blick über die Stadt. Ihr Bett, ein Schreibtisch und ein Bücherregal sind schon aufgebaut. Auf dem Boden liegt ein Teppich. Drauf stehen fünf Umzugskartons. Auf jedem steht, mit einem dicken schwarzen Flizstift geschrieben: „LAURA“. Sie befestigt Plakate an der Wand. Es klopft an der Tür. LAURA: Herein. SIRTALI erscheint im Türeingang: Donnerwetter, du bist schon fix und fertig eingerichtet! LAURA: Ich hab alles genau geplant. SIRTALI: Kannst du mir beim Auspacken in der Küche helfen? Ich schaff das nicht allein bis zum Abendessen. Wischblende.
39.
Fußballplatz in der Stadt. MARTIN spielt mit seinen FREUNDEN Fußball. CAROLIN (15) spielt als einziges Mädchen mit. CAROLIN steht im Tor. MARTIN dribbelt um die Verteitiger herum und schießt. CAROLIN kann MARTINS knallharten Schuß nicht halten. Alle schreien: Tor! Wischblende.
40.
In der Wohnung von HANS. SUSITWO und HANS machen gemeinsam Hausaufgaben. HANS: Sag mal Susi, liebst du mich auch? SUSITWO: Ich hab dir verboten, „Susi“ zu mir zu sagen! Nimm es sofort zurück! Oder ich gehe auf der Stelle. Dann kannst du heute allein in die Disco gehen. HANS: Ich dachte… SUSITWO unterbricht ihn: Du sollst nicht denken, sondern das tun, was ich dir sage. HANS: Okay – ich nehme es zurück. Wischblende.
41.
Fußballplatz. Das Fußballspiel ist vorbei. CAROLIN geht zu MARTIN. CAROLIN: Hast du Lust, mit mir ein Eis zu essen. Ich lade dich ein.
42.
Eiscafé. CAROLIN kauft Eis für sich und MARTIN. MARTIN (cool, als sei er es gewohnt, daß immer alles so geht, wie er es will): Ich bezahle. MARTIN kramt in seinen zahlreichen Hosentaschen und gibt der EISVERKÄUFERIN einen Zehn-Euro-Schein. Sie verlassen das Eiscafé.
43.
Straße vor dem Eiscafé. CAROLIN: Danke, Martin. Du bist total nett. MARTIN freut sich, versucht aber seine Freude vor CAROLIN zu verstecken. (Pause) CAROLIN: Du bist der beste Fußballspieler in der ganzen Klasse. Hättest du was dagegen, wenn ich meinen Freundinnen sage, daß ich mit dir gehe? Wischblende.
44.
MARTIN steht vor der neuen Wohnung und klingelt. SIRTALI öffnet die Tür. MARTIN: Ist mein Zimmer fertig? SIRTALI: Klar.
45.
In der Küche. LAURA räumt das Geschirr ein. SIRTALI kümmert sich um das Essen. MARTIN: Ist Mama schon da? LAURA: Nein. MARTIN: Und Papa? LAURA: Er hat gerade angerufen, daß es an der Universität etwas länger dauert. Er mußte in eine Fakultätssitzung. Susitwo hat auch schon angerufen. Sie muß sich mit einer Freundin für ihre Französisch-Klassenarbeit morgen vorbereiten. Die lügt wie gedruckt. MARTIN: Ihr Weiber seid alle gleich. Wischblende.
46.
THOMAS steht vor der Wohnung und klingelt. Wieder öffnet SIRTALI. THOMAS: Ich hab Kopfschmerzen. Ich muß ins Bett. SIRTALI umarmt THOMAS. SIRTALI: Ich hab dein Bett schon gemacht.
47.
SIRTALI geht mit THOMAS zu seinem Zimmer.
48.
SIRTALI öffnet die Tür zu Thomas’ Zimmer. Auch hier ist das Bett fertig, ein Schreibtisch und Regale aufgebaut. An der Wand hängt ein Poster von Eminem. SIRTALI: Ist alles so richtig? THOMAS: Und mein Computer? SIRTALI deutet auf den Umzugskarton, der übersät ist mit dicken roten Totenköpfen: Ich hab ihn nicht angerührt. THOMAS: Sag den andern, daß ich nicht gestört werden will heute. Nur Mama darf in mein Zimmer kommen. Ich glaube, ich bin krank. (Pause) Alles ist irgendwie komisch in meinem Kopf. (Pause) Ich hab das Gefühl, ich kann nicht mehr richtig sehen. SIRTALI streichelt THOMAS. SIRTALI: Das ist bestimmt nur die Aufregung. Gestern die Fernsehshow, heute der Umzug. Das ist ein bißchen viel für einen jungen Mann. Leg dich ins Bett und ruh dich aus. Morgen sieht alles anders aus. Ich schau nochmal rein, bevor ich nachhause gehe. THOMAS: Bleib noch einen Moment. SIRTALI: Was ist? THOMAS zieht sich vor SIRTALI aus und legt sich ins Bett. SIRTALI: Hast du Probleme mit Jenny? THOMAS: Sie hat Schluß gemacht. Und dabei liebe ich sie wirklich. Viel mehr als alle anderen Mädchen, die ich bis jetzt gehabt hab. Ich möchte nicht mehr leben! SIRTALI: Das geht vorbei. Die Zeit heilt alle Wunden, hat meine Mutter immer zu mir gesagt. SIRTALI küßt THOMAS. THOMAS: Kann ich nicht dich heiraten? SIRTALI: Ich bin zu alt für dich. Wenn du ein paar Jahre älter bist, hast du mich längst vergessen. So ist das Leben! Wischblende.
48.
Im Schlafzimmer von SVENS Wohnung. SUSI SÜSSMILCH und SVEN liegen im Bett. Neben dem Bett steht ein offener, reisefertig gepackter Koffer. SUSI: Ich werde deinen Geruch vermissen. Ich weiß noch nicht, ob ich das aushalten kann. (Pause) Ich hatte gestern Nacht einen fürchterlichen Traum. Als ANTON mich geweckt hat, war ich schweißgebadet. Wischblende.
49.
ANTON BOGENBAUER schließt die Tür zu seiner neuen Wohnung auf. SIRTALI kommt aus der Küche. SIRTALI: Das Essen ist fertig. Der Tisch ist gedeckt. Ich kann Ihre Frau nicht erreichen.
50.
Im Flur. ANTON: Sie hat bestimmt wieder einen Schmerzpatienten. Dann essen wir eben ohne sie. SIRTALI: Thomas will auch nichts essen. Er sagt, er sei krank.
51.
ANTON wirft einen Blick ins Wohnzimmer, auf den festlich gedeckten Tisch.. ANTON: Wie haben Sie das bloß alles geschafft? SIRTALI (stolz): Mein Vater und mein großer Bruder haben mir geholfen. In meiner Heimat ist das so. Jeder hilft jedem. ANTON: Was würden wir machen ohne Sie. Hoffentlich bleiben Sie uns noch lange erhalten. SIRTALI: Sie bezahlen mich gut, Herr Professor. Warum sollte ich kündigen? ANTON: Sie könnten sich verlieben und heiraten wollen. SIRTALI: Ich suche keinen Mann. Warum also sollte ich mich verlieben? ANTON: Das passiert manchmal, ganz plötzlich. Immer, wenn man am wenigsten damit rechnet. Wischblende.
52.
SVENS Wohnung SUSI SÜSSMILCH: Willst du, daß ich ihn dir erzähle? SVEN: Bitte erzähl ihn mir. Auch wenn es drei Stunden dauert. SUSI: Ich war auf einem sehr hohen Berg. Ich konnte alles sehen – weit in das Land hinein. Um mich rum waren wahnsinnig hohe Felsnadeln. Es war eine Art Hochplateau. Es sah so aus wie euer Platz in Chile, da wo ihr den Berggipfel weggesprengt habt. Aber da war ein riesengroßer Baum. Ich war splitternackt und mit eisernen Ketten an diesen Baum gefesselt. Wenn ich versucht habe, mich zu bewegen, haben die Ketten geklirrt. So laut, daß es mir in den Ohren weh getan hat. Ich wußte nicht, was ich tun soll. Da kam ein riesengroßer Adler angeflogen. Der landete auf einem Ast über mir. Ich hatte keine Angst, weil ich dachte, Adler können mich nicht fressen. Ich bin viel zu groß für sie. Dann fing dieser Adler plötzlich an zu sprechen. Ich wußte, daß Adler nicht sprechen können. Aber der Adler sagte: du mußt das opfern, was dir das Liebste ist. Dann bist du frei. Er hatte eine sanfte, melodiöse Stimme. Dann kam ein Mann, ein Bergsteiger. Der sagte: Ich bin der liebe Gott. Hör nicht auf den, der gerade mit dir gesprochen hat. Denn er ist der Teufel. Dann habe ich gesagt: woher weiß ich, wer hier der Teufel ist. SVEN: Hat das was mit mir zu tun? Ich bin kein Teufel! SUSI: Ich weiß, daß du kein Teufel bist. (Pause) Wann geht dein Flug? SVEN: Fünf Uhr dreißig. SUSI: Ich bin am Flughafen. Ich muß jetzt nachhause. Dort geht bestimmt alles drunter und drüber. Wischblende.
53.
Das Zimmer von THOMAS. THOMAS holt aus den Umzugskartons Bücher. Er sucht ganz offensichtlich ein bestimmtes Buch. Er findet es: der Titel ist „Hypnose und Suggestion“. Er legt sich wieder ins Bett und fängt an, darin zu lesen. Wischblende.
54.
SIRTALI serviert im Wohnzimmer das Abendessen. Alle sind da - auch SUSI SÜSSMILCH - bis auf THOMAS und SUSITWO. ANTON: Sirtali, könnten Sie bitte Thomas sagen, daß er kommen muß, egal wie er sich fühlt. Ich möchte etwas sagen und dann auch mit ihm anstoßen. ANTON entkorkt eine Flasche Champagner.
55.
SIRTALI kommt in das Zimmer von THOMAS. Er klappt sein Buch zu und versteckt es schnell unter der Bettdecke, weil er nicht möchte, daß irgendjemand weiß, was er liest.
56.
Im Wohnzimmer. Draußen wird es langsam dunkel. SIRTALI und THOMAS kommen ins Zimmer. THOMAS trägt einen Schlafanzug. ANTON BOGENBAUER verteilt an alle Familienmitglieder die neuen Hausschlüssel. Dann schenkt er Champagner in die Gläser. ANTON: Liebe Familie, liebe Sirtali! Heute dürfen alle, auch Laura und Martin – ausnahmsweise – miteinander anstoßen. Heute ist ein großer Tag für unsere Familie. Wir haben jetzt 25 Jahre in unserem alten Haus gelebt. Wir haben viele gute und manchmal auch schlechte Zeiten gemeinsam erlebt. Wir fangen jetzt nocheinmal von vorne an, denn wir haben ein neues Zuhause bezogen. Wie eine Schlange, die ihre alte Haut abwirft, wenn sie zu klein geworden ist. Hoffentlich haben wir Glück dabei! Darauf – auf unser Glück - möchte ich mit euch allen anstoßen! Alle stoßen miteinander an. LAURA nippt an ihrem Glas. LAURA: Der schmeckt scheußlich. SUSI SÜSSMILCH gibt ANTON einen Kuß auf den Mund.
57.
Hochhaustotale (aus Szene 37). In vielen Fenstern brennt Licht.
58.
Eine Disco. SUSITWO und HANS tanzen ekstatisch miteinander. Der Schweiß läuft ihnen übers Gesicht. Abblende.
59.
Im Schlafzimmer von SUSI SÜSSMILCH. Draußen wird es hell. SUSI schläft. Der Wecker, den sie auf einen Umzugskarton neben ihr Bett gestellt hat, klingelt. SUSI stellt ihn ab und steht sofort auf.
60.
Im Schlafzimmer von THOMAS. SUSI ist inzwischen fix und fertig angezogen. Sie küßt THOMAS. THOMAS wacht auf. SUSI: Ich muß in die Praxis. Wie geht es dir heute. THOMAS: Ich bin okay. Ich glaube, ich bin wieder gesund. SUSI: Heute abend werde ich mich um dich kümmern! Wischblende.
61.
Im Flughafen. SUSI SÜSSMILCH steht neben SVEN, der dabei ist einzuchecken. SUSI: Am liebsten würde ich mitfliegen. SVEN: Tu’s doch! SUSI: Du bist verrückt. Ich kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen. SVEN: Manchmal muß man das tun im Leben.
62.
SVEN geht mit SUSI zur Paßkontrolle. SVEN: Stell dir vor, du hättest einen Unfall. Dann ist auch von einer Sekunde auf die andere alles möglich. Alle, die davon betroffen sind, finden sich damit ab, weil sie das müssen. Das Leben funktioniert im Prinzip wie ein Ameisenhaufen. Etwas ganz Schlimmes passiert von außen. Ein kleiner Junge wirft einen dicken Stein auf den Haufen. Alles, in der Ameisenwelt, bricht zusammen. Die Ameisen rennen wie verrückt herum. Die Leichen werden weggeschafft. Nach ein paar Stunden läuft alles wieder wie vorher. Bei den Sternen ist es dasselbe. Ein Stern explodiert, weil er zu alt ist. Eine Weile bricht das Chaos aus. Dann entsteht ein neues Gleichgewicht. Bei den Sternen dauert das bloß ein paar Millionen Jahre. Die funktionieren anders als Menschen und Ameisen. Es ist aber nur ein Zeit-Unterschied. – Ich muß jetzt in meine Maschine. SUSI: Ich kann das nicht. Wenn ich ein junges Mädchen wäre, würde ich das wahrscheinlich jetzt machen. SUSI umarmt und küßt SVEN. SUSI: Vergiß mich nicht! SVEN: Ich schick dir jeden Tag eine Email. Wischblende.
63.
Im Wohnzimmer. Alle, außer SUSI, sitzen am Frühstückstisch. LAURA fragt ANTON: Papa dürfen wir heute abend die Videocassette von der Talkshow sehen? ANTON: Wenn ihr eure Hausaufgaben alle gemacht habt und wenn eure Mama einverstanden ist, spricht nichts dagegen. Wo ist sie eigentlich? SIRTALI: Sie mußte schon ganz früh in die Praxis. Sie hatte einen Schmerzpatienten. THOMAS: Von mir hat sie sich verabschiedet, bevor sie losgefahren ist. Wischblende.
64.
In der Zahnarztpraxis. SUSI SÜSSMILCH zieht einem PATIENTEN einen Zahn. SUSI: Hat es weh getan? PATIENT: Nein. Der PATIENT schnuppert: Was stinkt den hier so? SUSI: Alles um Ihren Zahn herum ist vereitert. Es war allerhöchste Zeit, daß Sie zu mir gekommen sind. PATIENT: Deshalb hat mich meine Frau schon seit ein paar Monaten nicht mehr geküßt. SUSI: Das könnte sehr gut ein Grund gewesen sein. Wischblende.
65.
Die Sonne scheint. Eine flache Weidelandschaft außerhalb von Berlin. LAURA und ihre Freundin PETRA reiten zusammen. Am Rand der Koppel sitzt FELIX (14), auf einem Holzbalken, ißt eine Stulle, trinkt einen Schluck aus einer Cola-Dose und schaut den beiden Mädchen zu.
66.
Eine Reitschule. LAURA und PETRA ziehen sich um. LAURA (zu PETRA): Ich möchte auch ein eigenes Pferd haben. PETRA: Du mußt aufhören, dir irgendwas anderes zu wünschen. Ein ganzes Jahr lang. Dann denkt dein Papa, daß du krank wirst, wenn du kein Pferd kriegst. So hab ich’s gemacht. Dann kriegst du eins. Ich schwör’s. FELIX kommt zu den beiden Mädchen. FELIX: Ich hab ein Pferd, Laura, wenn du willst, kannst du es immer haben. Ich hab dir eine Cola mitgebracht. Du trinkst doch hoffentlich Cola? LAURA: Überhaupt nicht. Aber ich finde, du bist nett. Deshalb trinke ich es – ausnahmsweise.
FELIX gibt LAURA die Coladose. LAURA öffnet sie und trinkt einen Schluck. Sie verzieht das Gesicht: Ich trinke sie nur dir zuliebe. FELIX: Ich hab dich gestern im Fernsehen gesehen. Wischblende.
67.
In der SCHULE. Der LEHRER interpretiert ein Gedicht von Goethe. THOMAS liest ungerührt in seinem Buch „Hypnose und Suggestion“. Wischblende.
68.
Universität, Hörsaall. ANTON BOGENBAUER kommt in den Hörsaal, schaut auf seine Studenten – JULIETTE sitzt da, wo sie immer sitzt - er beginnt seine Vorlesung. ANTON: „ Ich beginne wieder mit einem Rückblick, damit Sie über den einzelnen Überlegungen den Gang der Vorlesung nicht aus den Augen verlieren. Es wäre steril und würde Ihnen nicht weiterhelfen, wenn ich Ihnen die schon einmal vorgetragenen Gedanken in derselben Reihenfolge wiederholen würde: ich rufe vielmehr dieselben Gedanken in einer anderen Reihenfolge in Erinnerung. Damit verbinde ich die Hoffnung, daß Sie lernen, daß die lineare Sequenz, in der wir Gedanken zu verknüpfen pflegen, eine perspektivische Täuschung in sich enthält. Jeder Gedanke, der etwas taugt, ist ein mehrdimensionales Gebilde, das in alle Dimensionen des Horizontes unserer Erkenntnis ausstrahlt. JULIETTE notiert sich: „Jeder Gedanke – mehrdimensionales Gebilde“. ANTON BOGENBAUER: Ich setze ein mit dem Zitat von Nietzsche, das mit unüberbietbarer Knappheit unsere Situation in der gegenwärtigen Stunde der Geschichte des Denkens charakterisiert: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte’: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben. – So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattehaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben.“ – „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, eine aus dem Jahre 1873 stammende, nachgelassene Abhandlung, Seite 369. Dieser Gedanke hat das Gebäude der europäischen Metaphysik zum Einsturz gebracht. Er war nicht neu, denn er mußte sich mit Notwendigkeit aus dem Durchdenken der Ergebnisse der neuzeitlichen Astrophysik ergeben. JULIETTE notiert sich: „Einsturz europäische Methaphysik. Nietzsche!!!“ ANTON BOGENBAUER: Wenn das Weltall so beschaffen ist, wie die moderne Astronomie es uns darstellt, dann ist es schlechterdings unverständlich, wieso ausgerechnet in diesem abgelegenen Winkel ein Lebewesen entstanden sein soll, das bestimmt ist, die absolute Wahrheit des Universums zu erkennen. Wischblende.
69.
In der Wohnung. Es ist Abend. LAURA, SUSITWO, MARTIN, ANTON BOGENBAUER und SUSI SÜSSMILCH schauen sich die Videoaufzeichnung der Talkshow an. FLICKSCHUSTER sagt: Was ist „Glück“? Laura hat mir geemailt: Glück ist, wenn alles ganz einfach ist. Ich muß Ihnen ganz offen gestehen: das hat mich überzeugt. Dieser Satz hat mich dazu gebracht, Sie als ‚Glücklichste Familie’ auszuwählen. Laura hat dann weiter geschrieben: Glück ist, wenn ALLES, was ich mir wünsche, in Erfüllung geht. Wischblende.
70.
Park. Nacht. THOMAS sitzt im Gebüsch verborgen. Er hat ein Foto von Jenny in der Hand und starrt auf das hellerleuchtete Fenster im 4. Stock eines alten Wohnhauses. THOMAS (flüstert): Jenny ich befehle dir: mach dein Fenster auf und schau hinaus. Du mußt mich finden! Vergiß alles, was du tun willst. Öffne dein Fenster! Ich weiß genau, daß du mich noch immer liebst. Du hast nur Angst.
71.
JENNYS Wohnung. JENNY liest ein Buch, dann klappt sie es zusammen. Sie zieht sich aus und zieht einen Schlafanzug an.
72.
THOMAS starrt noch immer auf das erleuchtete Fenster. Er wird ohnmächtig und kippt um. Wischblende.
73.
Im Wohnzimmer. In der Talkshow sagt SUSI SÜSSMILCH: Wir Erwachsenen sehen das wahrscheinlich noch ein bißchen anders, aber – irgendwie – hat meine Tochter Recht. Ich fühle mich glücklich, wenn meine Kinder gesund und munter sind. Ich fühle mich glücklich, wenn ich einem Patienten einen Zahn gerettet habe…SUSI SÜSSMILCH schreit plötzlich laut auf. Sie springt auf und greift sich mit beiden Händen an den Kopf. ANTON: Was hast du? SUSI antwortet nicht. ANTON steht auf und geht zu ihr. ANTON: Sag, was ist los? SUSI kann nicht antworten. SUSI: In meinem Kopf war plötzlich ein stechender Schmerz. Es tut noch immer höllisch weh. ANTON: Ich hol dir ein Aspirin, okay? Laura mach den Fernseher aus. Und dann geht ihr alle ins Bett. Eure Mutter braucht jetzt erst einmal Ruhe. LAURA schaltet den Fernseher und den Videorecorder aus. Die Kinder verlassen schweigend das Wohnzimmer. SUSI: Thomas ist etwas passiert. ANTON: Jetzt beruhige dich erstmal wieder. Thomas kommt oft spät nachhause. Es ist jetzt halb zehn. Kein Grund zur Beunruhigung. SUSI: Ich weiß das ganz genau. Wir müssen ihn suchen. Wo ist das Telefon? (richtig wütend) So eine Scheiße! Ich kenne mich in dieser Wohnung überhaupt nicht aus. ANTON hebt SUSI hoch und legt sie auf das Sofa. SUSI fängt an, hysterisch zu weinen. SUSI: Bitte bring mir das Telefon! Hast du die Nummer von seiner Freundin? Ich weiß nicht einmal wie die heißt.
74.
ANTON findet in der Küche das Telefon und wählt eine Nummer. ANTON: Hier ist Anton. Bitte entschuldige die späte Störung. – Weißt du, wo Thomas sein könnte. Meine Frau ist sehr beunruhigt. – Hast du die Telefonnummer von Jenny? – Weißt du, wo sie wohnt? – Er wird bestimmt bald nachhause kommen. Gute Nacht, Sirtali. MARTIN kommt im Schlafanzug in die Küche. MARTIN: Papa ich weiß wo Jenny wohnt, und ich weiß auch, wo er ihre Telefonnummer aufgeschrieben hat.
75.
Im Zimmer von Thomas. MARTIN zeigt ANTON das „geheime Tagebuch“ von Thomas. ANTON blättert darin. Es ist ein Schulheft mit mehreren Abteilungen. „Liebes-Tagebuch“. „Küsse“ enthält eine Aufzählung der Mädchen, die er geküßt hat. „Mehr“ enthält eine Aufzählung der Mädchen, mit denen er – wahrscheinlich – geschlafen hat. „Wichtige Adressen“ ist ein Adressbuch mit Namen von Mädchen, Freunden und Discos. Ganz am Schluß gibt es eine Seite. Darüber steht „Mein Testament“. „Liebe Leute, ich spüre, daß ich sehr krank bin. Wahrscheinlich werde ich nicht mehr sehr lange leben. Martin soll einmal alle meine Sachen bekommen. Meine CD’s bekommt Jenny. Ich habe nur einen Wunsch: daß meine Eltern wieder glücklich werden. – Berlin, 1. April 2003. Thomas Bogenbauer. PS: Das ist kein Aprilscherz. Bitte nehmt das Ernst.“ MARTIN: Papa du darfst nicht lesen, was Thomas geschrieben hat. MARTIN blättert in dem Schulheft zurück auf Adressen. MARTIN: Das ist Jennys Telefonnummer. ANTON: Geh jetzt wieder ins Bett! MARTIN: Du darfst Thomas nicht sagen, daß ich dir sein Tagebuch gezeigt habe. Versprichst du mir das? ANTON: Versprochen.
76.
Im Wohnzimmer. ANTON wählt die Nummer von Jenny und kommt ins Wohnzimmer. ANTON: Ich hab jetzt die Nummer und die Adresse seiner Freundin. Willst du wirklich, daß ich ihn anrufe? Vielleicht liegt er mit ihr im Bett, und sie schlafen zum erstenmal miteinander. Da wäre ein Anruf seiner besorgten Eltern außerordentlich unpassend. SUSI hört auf zu Weinen, setzt sich auf. SUSI: Gib mir die Nummer und das Telefon. ANTON: Ich hab die Nummer schon eingegeben. Du mußt nur noch auf Wählen drücken. SUSI: Scheißtelefon! Warum konnten wir nicht unser altes Telefon behalten? Ich muß unbedingt einen Computerkurs machen. (ins Telefon) Hallo Jenny! Ich bin die Mutter von Thomas. Thomas ist nicht nachhause gekommen und ich mache mir Sorgen um ihn. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte? – Nein. – Bitte entschuldigen Sie meinen Anruf. SUSI gibt ANTON das Telefon. SUSI: Du mußt die Polzei informieren und alle Krankenhäuser anrufen. Wischblende.
77.
Ein BETRUNKENER geht durch den Park und singt leise ein Lied vor sich hin. Nicht grölend, sondern eher so als würde er ein Kind in den Schlaf singen. Er hört plötzlich auf zu singen, knüpft sich den Hosenladen auf, geht zu ein paar dichten Sträuchern und fängt an zu pinkeln. Er entdeckt den auf dem Boden liegenden THOMAS. BETRUNKENER: Mein Gott. Ein Mord! Ich muß die Polizei anrufen! Warum kann man nicht einmal mehr ruhig pinkeln in dieser Stadt?!
78.
Telefonzelle. Der BETRUNKENE hat den Notruf gewählt. BETRUNKENER: Ich habe hier eine Leiche gefunden. – Ich bin in der Telefonzelle am Chamissoplatz. – Okay ich warte auf Sie.
79.
Der BETRUNKENE setzt sich auf eine Parkbank und zündet sich eine Zigarette an. Ein Polizeiwagen erscheint mit Blaulicht und Martinshorn und hält in der Nähe der Telefonzelle. Ein Beamter springt aus dem Wagen. Die Telefonzelle ist leer. Er schaltet seine Taschenlampe ein und sucht die Umgebung der Telefonzelle ab. Der BETRUNKENE steht auf, das Licht der Taschenlampe fällt auf ihn. BETRUNKENER: Donnerwetter! Ihr könnt wirklich schnell sein! BEAMTER: Wenn das ein Scherz war, dann landest du für ein paar Monate hinter Gittern. Das verspreche ich dir! Wo ist der Tote?
80.
JENNY wacht auf, guckt aus dem Fenster. JENNY: Mein Gott! Hoffentlich ist das nicht Thomas!
81.
Der BETRUNKENE geht mit dem BEAMTEN zu den Büschen, wo THOMAS auf der Erde liegt. BETRUNKENER: Bitte schön. Hab ich euch zu viel versprochen? Ein Krankenwagen mit NOTARZT, ebenfalls mit Blaulicht und Martinshorn, trifft ein. Der BEAMTE untersucht kurz THOMAS. Der NOTARZT kommt dazu untersucht THOMAS nocheinmal. NOTARZT: Der Junge muß sofort ins Krankenhaus! JENNY, die nur einen Bademantel umgeworfen hat, kommt dazu. JENNY: Das ist Thomas. Er ist mein Freund. Der BEAMTE hält das Foto, das THOMAS in der Hand gehabt hat und vergleicht das Foto mit JENNY. BEAMTER: Sind Sie das, junge Frau? Zwei SANITÄTER legen THOMAS vorsichtig auf eine Tragbare. Der BEAMTE leuchtet JENNY mit seiner Taschenlampe ins Gesicht. JENNY: Ich fahre mit ins Krankenhaus. Ich muß bei ihm sein, wenn er wieder aufwacht. Ein SANITÄTER: Hoffentlich wacht er nochmal auf. JENNY wirft ihm einen giftigen Blick zu und sagt zu dem BEAMTEN: Ich weiß seine Telefonnummer. Sie müssen sofort seine Eltern anrufen. Wischblende.
82.
Krankenhaus. JENNY sitzt am Bett von THOMAS. Er ist an alle Maschinen angeschlossen, die ihn am Leben halten. JENNY streichelt die Hand von THOMAS. Der CHEFARZT kommt mit SUSI SÜSSMILCH und ANTON BOGENBAUER ins Zimmer. SUSI stürzt sich auf THOMAS. SUSI: Thomas, was ist passiert? THOMAS reagiert nicht. Seine Augen bleiben geschlossen. SUSI: Thomas! Ich bin’s, deine Mama! THOMAS öffnet einen Moment seine Augen, schaut sich suchend um und entdeckt JENNY, dann SUSI. THOMAS: Hallo Mama. Gut, daß du da bist. Dann fallen die Augen von THOMAS wieder zu. SUSI: Was ist passiert? Kann ich irgendetwas für dich tun? THOMAS reagiert nicht. CHEFARZT: Ich muß Sie bitten, Thomas jetzt in Ruhe zu lassen. Sie müssen alle diesen Raum verlassen. SUSI: Keine Macht der Erde kann mich hier aus diesem Zimmer herausbringen. Der CHEFARZT verläßt mit den anderen das Zimmer.
83.
Gang Krankenhaus. JENNY (zu ANTON): Herr Bogenbauer, es ist alles meine Schuld. Ich habe mit ihm Schluß gemacht. Wischblende.
84.
Im Büro des CHEFARZTES. CHEFARZT (zu ANTON): Herr Professor, wir werden alles tun, was menschenmöglich ist. Ich muß Ihnen aber leider ganz offen sagen, die Aussichten sind nicht gut. ANTON: Was ist Ihre Diagnose? Kein Junge fällt aus Liebeskummer plötzlich ins Koma? CHEFARZT: Es ist ein Aneurysma cerebralis – ein Gehirngefäß ist plötzlich geplatzt. Bruce Lee ist daran gestorben. ANTON: Hat Thomas keine Überlebensschance? Wischblende.
85.
SUSITWO und HANS liegen im Bett. Sie haben zum erstenmal miteinander geschlafen. SUSITWO: Du bist der wunderbarste Mann auf der ganzen Welt. Wenn du das willst, heirate ich dich. Ich muß nur erst das Abitur machen. (Pause). Bist du sicher, daß das Präservativ gehalten hat? HANS guckt unter der Bettdecke nach und holt stolz das Präservativ hervor. Es ist prall gefüllt mit seiner Samenflüssigkeit. HANS: Wenn du mal Kinder haben willst, von mir kannst du jede Menge kriegen! SUSITWO küßt HANS zärtlich. SUSITWO: Ich liebe dich. Aber jetzt muß ich nach Hause. Sonst bricht da die Panik aus. Kannst du dich bitte umdrehen, solange ich mich anziehe! Wischblende.
86.
SUSITWO klingelt an der Wohnungstüre. Niemand macht auf. ANTON kommt aus dem Lift. ANTON: Wo warst du die ganze Zeit? SUSITWO: In der Disco. Ich hab doch gesagt, daß es heute später wird. Abblende.
87.
Hochhaustotale bei Nacht.
88.
Aufblende. SUSI SÜSSMILCH sitzt verheult und übernächtigt neben dem Bett von THOMAS. SUSI: Bitte Thomas werd wieder gesund! Eine KRANKENSCHWESTER kommt herein. KRANKENSCHWESTER: Frau Doktor Süssmilch, Sie müssen dringend schlafen. Sie können jetzt nichts für Ihren Sohn tun. Wir haben ein Bett für Sie freigemacht. Wir holen ihn gleich und bringen ihn zum Computertomographen. SUSI: Ich kann nicht schlafen. Ich gehe nicht von seiner Seite. Wischblende.
89.
Der leblose Körper von THOMAS wird von zwei KRANKENSCHWESTERN in den Computertomographen geschoben.
90.
SUSI SÜSSMILCH, noch immer übernächtigt und verheult, wartet auf einer Bank in einem Krankenhausgang. Türen öffnen und schließen sich. Ärzte und Schwestern laufen scheinbar sinn- und ziellos herum. Eine gespenstische, unwirkliche Atmosphäre. ANTON BOGENBAUER kommt dazu. SUSI schaut ihn kurz an. Beide sprechen nicht miteinander – lange Zeit. Dann sagt ANTON: Er wird es schon schaffen. Vielleicht haben wir noch einmal Glück. SUSI schaut ANTON lange an, dann sagt sie: Ich liebe einen anderen Mann. Weißt du das? ANTON: Ja. SUSI: Wir haben zu lange mit Lügen gelebt. Vielleicht ist Thomas deshalb krank geworden. ANTON antwortet nicht. SUSI: Bitte bet’ mit mir. Vielleicht hilft das. SUSI versucht ANTON anzulächeln. ANTON ist sichtlich hilflos. SUSI, die seit ihrer Kindheit nicht mehr gebetet hat, faltet wie ein Kind brav die Hände. ANTON sieht sie an. SUSI fängt an das Vaterunser zu beten. Ganz leise, kaum hörbar. ANTON schließt sich ihr an. Ihm schießen Tränen in die Augen. Wischblende.
91.
Friedhof. THOMAS wird beerdigt. Der PFARRER hält eine kurze Ansprache. Seine Geschwister weinen. Das Gesicht von ANTON und SUSI ist wie versteinert. Sie können beide nicht mehr weinen. Als der Sarg in die Grube gesenkt worden ist und SUSI an der Reihe ist, eine Schaufel Erde in das offene Grab ihres Sohnes zu werfen, scheint sie nicht zu wissen, was sie tun soll. Alle schauen sie erwartungsvoll an. SUSI fragt leise, ganz erstaunt: Was macht ihr hier alle? Was wollt ihr von mir? Dann fängt sie an immer lauter zu werden. Das passiert wie in Zeitlupe. So als könne man sehen, wie in ihrem Kopf ein Schaltkreis nach dem anderen zusammenbricht. SUSI: Ach so mein Sohn ist tot. Das hätte ich fast vergessen. Es war so viel los in letzter Zeit. Ich bin ein bißchen durcheinander. Das müßt ihr verstehen. Bitte habt Verständnis für mich. Jetzt schreit SUSI. Ihr Gesicht verzerrt, wird beinahe zu einer Fratze. Sie sieht aus, als sei sie von einem bösen Geist besessen. SUSI: Habt ihr wirklich Mitleid mit mir. ICH habe meinen Sohn verloren. Was ist das für ein scheinheiliges Getue, daß ihr hier abzieht! Es gibt kein ewiges Leben! Es gibt keinen Gott, der uns liebt. Der uns in den Arm nimmt, wenn es uns schlecht geht. SUSI lacht laut los. Ein absolut irres Lachen. Die Trauergemeinde ist entsetzt. ANTON versucht SUSI zu beruhigen. ANTON: Bitte Susi, bitte hör auf zu schreien! SUSI hört nicht auf, sondern schreit noch lauter als vorher. SUSI: Wißt ihr was? Ich will ficken. Solange ich noch lebe. Was guckt ihr so schockiert! Das macht mich glücklich. Und euch auch! Dann will ich sterben. Ich fange sofort damit an. Aber muß ich nocheinmal nach Südamerika fliegen. ANTON hebt SUSI, bevor sie weiter reden kann schließlich hoch und trägt sie aus dem Friedhof. Zu seinen Kindern sagt er noch: Ihr bleibt hier. Sirtali bringt euch nach Hause. Wischblende.
92.
Eine Arztpraxis. SUSI hat aufgehört zu schreien. Sie weint laut und verzweifelt. Dann lacht sie wieder ihr irres Lachen. FRIEDRICH (50), der Arzt, gibt SUSI eine Spritze in die Vene. SUSI wird langsam ruhig. Sie schließt die Augen und schläft ein. ARZT: Anton, es tut mir leid. Deine Frau hat einen Nervenzusammenbruch. Ihr Gehirn spielt verrückt. In diesem Zustand wäre sie in der Lage, sowohl dich wie auch deine Kinder umzubringen. Wir müssen sie in eine psychiatrische Klinik einweisen. Es gibt da beim besten Willen keinen anderen Weg. Außerdem müssen wir eine Computertomographie machen. ANTON: Friedrich bitte sei ganz offen mit mir. Könnte es sein, daß sie wie Thomas ein Aneurysma hat? Ist sowas erblich? FRIEDRICH: Es gibt dazu schon eine erbliche Veranlagung. Ein Freund von mir leitet eine solche Klinik. Es ist keine Klapsmühle, sondern ein schönes altes Schloß mitten in einem großen Park. Ein Platz, wo jeder gerne mal Urlaub machen möchte. Ich werde alles veranlassen. Ich brauche nur noch ein paar Unterschriften von dir. Wischblende.
93.
Zuhause sitzen SUSITWO, MARTIN und LAURA, immer noch in Trauerkleidung im Wohnzimmer am Eßtisch. SIRTALI stellt das Essen auf den Tisch. SIRTALI: Kinder ihr müßt was essen. Eure Mutter und euer Vater sind bestimmt bald wieder da. Aber keiner will etwas essen. Das Telefon klingelt. LAURA rennt zum Telefon und hebt ab. LAURA: Laura Bogenbauer. – Es ist Papa. LAURA gibt das Telefon SIRTALI. LAURA: Er will mit dir sprechen. SIRTALI nimmt das Telefon und geht in die Küche. Wischblende.
94.
In einem Krankenwagen. SUSI SÜSSMILCH liegt auf einer Bahre. Ihre Hände und Füße sind an die Bahre angeschnallt. Ihre Augen sind geschlossen. ANTON sitzt neben ihr und telefoniert. ANTON: Es wird nicht lange dauern. In zwei, drei Stunden bin ich wieder zuhause. SUSI öffnet die Augen. SUSI: Was ist passiert? Wo bin ich? ANTON: Es ist alles in Ordnung. Ich bin bei dir! Du hattest einen Nervenzusammenbruch. Wir fahren jetzt in eine Klinik, wo du wieder gesund werden kannst. SUSI denkt angestrengt nach. SUSI: Du bringst mich ins Irrenhaus. Sehe ich das richtig? ANTON (übertrieben ruhig): Es ist kein Irrenhaus. Es ist eine Luxusklinik. Ein Freund von Friedrich leitet sie. Ich werde dich jeden Tag besuchen. SUSI: Wie kannst du nur sowas mit mir machen? Was sollen die Kinder von mir denken! Bitte denke an unsere Kinder! (Pause) Aabeeh, bitte sag mir ganz offen, ist Thomas wirklich tot? Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich bin todmüde. Werde ich sterben? Wischblende.
95.
Im Wohnzimmer. SIRTALI kommt aus der Küche zurück. LAURA: Was hat Papa gesagt? SIRTALI: Zuerst wird was gegessen. SIRTALI gibt jedem Kind eine kleine Portion auf den Teller. Dann setzt sie sich auch an den Tisch. SIRTALI: Wollt ihr, daß ich euch füttere? Ein Löffel für Mama, ein Löffel für Papa? Ihr seid doch schon groß! LAURA fängt tapfer an zu essen, MARTIN und SUSITWO machen es ihr nach. SIRTALI: Eure Mutter hat einen Nervenzusammenbruch. Sie ist jetzt bei einem Freund eures Vaters. Er ist der beste Arzt in ganz Deutschland. Euer Vater glaubt, daß sie in zwei Wochen wieder da ist. Und daß sie dann so ist wie früher. MARTIN: Kommt er nachhause? SIRTALI: Er hat gesagt, in drei Stunden ist er wieder da. Wischblende.
96.
SUSI SÜSSMILCHS lebloser Körper liegt noch immer auf einer Bahre und wird in einen Computertomographen geschoben.
97.
Ein luxuriös ausgestattetes Büro. PROFFESSOR WEINMEISTER (55) zeigt ANTON mit einem strahlenden Lächeln die Photographien von SUSIS Gehirn. WEINMEISTER: Herr Kollege, ich kann Sie beruhigen. Sie hat das schönste Gehirn aller Zeiten. Kein Tumor, kein Äderchen ist geplatzt. Ihr Gehirn sieht aus wie das einer Zwanzigjährigen. Alles funktioniert bestens. Geben Sie mir zwei Wochen, dann ist sie wieder topfit. Sie werden mit dieser wunderschönen Frau noch viel Freude haben. ANTON: Aber was ist, wenn sie sich erinnert. Auf der Herfahrt hat sie nicht einmal mehr gewußt, daß ihr Sohn, unser Sohn, gestorben ist. WEINMEISTER: Denken Sie darüber nicht mehr nach, wir können mit solchen Schicksalsschlägen umgehen. Das ist unser Beruf. Deshalb ist ein Aufenthalt in unserem Institut auch ein bißchen teurer als anderswo. (kleine Pause) Die Versicherung Ihrer Frau wird doch sicher für die Behandlung aufkommen? ANTON: Ich denke schon. WEINMEISTER: Sicherheitshalber möchte ich Sie trotzdem bitten, bevor Sie unser Haus verlassen, in der Aufnahme Ihre Kreditkartennummer zu hinterlassen. Man weiß ja nie. Krankenkassen sind manchmal ein bißchen kompliziert. Wischblende.
98.
ANTON spaziert durch den Park der Nervenklinik. Er zündet sich eine Zigarette an, setzt sich auf eine Parkbank und schaut auf einen See, auf dem Enten und Schwäne herumschwimmen.
99.
ANTON kommt in SUSIS Zimmer. ANTON: Ich fahr jetzt nachhause und kümmere mich um die Kinder. Ich werde dich jeden Tag besuchen. SUSI (gleichgültig, mechanisch): Mach was du willst. Ich werde dir nie verzeihen, daß du mich hierher gebracht hast. So lange ich lebe. (sie wird plötzlich lebhaft und versucht ein liebevolles Lächeln) Bitte bring die Kinder nicht hierher. Wischblende.
100.
ANTON kommt in SUSIS Praxis. Er sagt zur SPRECHSTUNDENHILFE: Die Praxis wird für zwei Monate geschlossen. Meine Frau hat einen Nervenzusammenbruch und ist in eine Klinik eingeliefert worden. Bitte benachrichtigen Sie ihre Patienten. Wischblende.
101.
ANTON kommt nachhause. Er umarmt seine Kinder. SUSITWO: Papa, ist Mama verrückt geworden? ANTON: Nein! Es ist nur ein Nervenzusammenbruch. MARTIN: Ist sie jetzt in einem Irrenhaus? LAURA: Papa, was ist ein Nervenzusammenbruch genau? ANTON: Das Gehirn ist das wichtigste und komplizierteste Organ des Menschen. Wenn es verletzt wird – deshalb sollte Martin nicht so viel Kopfball spielen – oder wenn etwas ganz Schlimmes passiert, dann spielen die Milliarden Nervenzellen im Gehirn plötzlich verrückt. Da sagt ein Mensch oder tut die merkwürdigsten Dinge. Aber wenn es Ruhe hat, so wie jetzt Mama, dann findet es sich langsam wieder zurecht und funktioniert von ganz alleine so wie früher. MARTIN: Aber Thomas ist nicht mehr da. Wie kann Mamas Gehirn dann noch richtig funktionieren. ANTON: Das ist das größte Geheimnis der Natur. Das Gehirn kann sich nach einer Weile von selbst heilen. Versteht ihr das? MARTIN: Wie mein Computer. Der spinnt manchmal auch total. Dann mache ich einen Neustart und alles geht wieder. ANTON lächelt: So etwa! Abblende.
102.
Hochhaustotale. Nacht.
103.
Aufblende. ANTON geht mit SUSI im Park der Nervenklinik spazieren. SUSI trägt ein neues Kostüm und ist ruhig und gefaßt. SUSI: Wie geht es den Kindern? ANTON: Sirtali kümmert sich um sie, als wären es ihre Kinder. Ich habe auch alle Vorlesungen und Seminare abgesagt und bin die meiste Zeit zu Hause. Du mußt dir keine Sorgen machen. (Pause) Du siehst gut aus! SUSI lächelt ANTON an. SUSI: Danke, Ahhbee! Du bist so lieb heute. Vielleicht sollte ich öfter mal einen Nervenzusammenbruch haben! ANTON lacht als sei das ein guter Witz. ANTON: Lieber nicht! SUSI lacht jetzt auch. Für einen Moment verstehen sich beide. Wischblende.
104.
JULIETTE sitzt in einem Café. ANTON kommt dazu, küßt sie liebevoll und setzt sich. ANTON: Was ist passiert? Warum mußtest du mich unbedingt sehen? JULIETTE fängt an zu weinen. Die KELLNERIN kommt. ANTON bestellt einen Capuccino. Als die KELLNERIN gegangen ist, sagt ANTON: Du weiß, was in meiner Familie passiert ist. Jetzt erzähl schon! JULIETTE (weinend): Ich habe mein Kind verloren. Ich denke, es hat damit zu tun, was in deiner Familie passiert ist. Die Kellnerin bringt den Cappuccino. ANTON trinkt einen Schluck. ANTON: Vielleicht ist es das beste für uns alle. Wischblende.
105.
Die Sonne scheint. Hochhaustotale.
106.
Wohnzimmer. Der Frühstückstisch ist gedeckt wie immer. ANTON wirft einen schnellen Blick auf die Schlagzeilen der Zeitungen. Seine Kinder erscheinen, angezogen und fertig für die Schule, einer nach dem andern. Zuerst MARTIN, dann SUSITWOl, dann LAURA. ANTON legt seine Zeitungen beiseite. ANTON: Wie sieht euer Nachmittag aus? Ich fahre zu eurer Mama und bin erst gegen sechs Uhr zurück. Bitte macht eure Hausaufgaben. Wenn ich zurückkomme, kontrolliere ich sie. LAURA: Papa, ich bin beim Reiten. Das weißt du doch. SUSITWO: Ich bin mit Hans verabredet. Wir machen die Hausaufgaben zusammen. Das macht mehr Spaß. MARTIN: Ich bin mit meinen Freunden zum Fußballspielen verabredet. Ich muß für Hertha trainieren. Du weißt doch, daß der Trainer mich vielleicht in die Jugendmannschaft aufnehmen will. ANTON: Na gut. Heute fahre ich euch in die Schule. Wischblende.
107.
ANTON hält seinen Wagen vor der Schule. Die Kinder steigen aus. LAURA. Tschüß Papa. Sag Mama, daß ich sie lieb hab. Wischblende.
108.
ANTON öffnet die Türe zu seiner Wohnung.
109.
Küche. SIRTALI wäscht das Frühstücksgeschirr ab. ANTON kommt in die Küche. Er umarmt SIRTALI. SIRTALI: Ich bewundere dich. Wie hältst du das alles bloß aus? ANTON legt seinen Kopf auf SIRTALIS Schulter. Er hat Tränen in den Augen. ANTON: Ich tu’ halt mein bestes. SIRTALI: Hör auf zu weinen. Du bist ein großer erwachsener Mann! (Pause) Ich habe beschlossen, nie mehr mit dir zu schlafen! Nie wieder! Deine Frau ist für mich wie eine große Schwester. Ich will nicht zwischen dir und ihr stehen. Ich will, daß du wieder zurückgehst zu ihr. ANTON löst sich aus der Umamung: Ist das eine Kündigung? SIRTALI: Nein. (Pause) Ich bleibe solange ich von euch beiden bezahlt werde. Deine Kinder sind mir ans Herz gewachsen. (Pause) Zumindest noch zwei oder drei Jahre. ANTON: Du bist grausam! Ich werde die Stunden, wo wir allein waren, vermissen. SIRTALI: Das macht nichts. Wischblende.
110.
ANTON kommt in SUSI SÜSSMILCHS Zimmer. Er hat einen dicken Strauß Rosen. SUSI liegt auf ihrem Bett und liest in einem Band mit Goethes Gedichten. ANTON: Hallo, da bin ich wieder. Ich hab dir Blumen mitgebracht. Damit du es schön hast hier. SUSI: Leg sie auf den Schreibtisch. Ich rufe gleich meine Krankenschwester. Die organisiert eine Vase. ANTON setzt sich auf einen der zwei Stühle, die im Zimmer stehen. ANTON: Was liest du da? SUSI: Gedichte von Goethe. Ich hab den Band in der Bibliothek gefunden. Den hat wahrscheinlich noch niemand hier gelesen. Ich hab seitdem ich siebzehn war, keine Gedichte mehr gelesen. Manche sind unglaublich einfach und schön. Sie stecken voller Lebensweisheit. Und das kann ich jetzt gebrauchen. Wischblende.
111.
Die Sonne scheint noch immer. ANTON BOGENBAUER geht mit SUSI SÜSSMILCH im Schloßpark spazieren. SUSI: Warum bist du in den letzten zwanzig Jahren nie mit mir spazieren gegangen. (Pause) SUSI bleibt stehen und lächelt ANTON an. SUSI: Das hast du nur gemacht, als wir uns kennengelernt haben. ANTON: Du weißt doch, wie das ist, wenn man sich verliebt. Jeder Piepser, den du von dir gegeben hast, war für mich wichtiger als alles andere auf der Welt. Der Krieg in Vietnam, die Revolution in Deutschland haben mich nicht die Bohne interessiert. Für mich gab es nur dich! SUSI schaut ANTON an. Sie scheint bereit, ihn wieder zu lieben. ANTON: Danach hast du gearbeitet,- du hast dein Examen bestanden, du hast mit Hilfe deines Vaters deine Praxis aufgemacht und ich hab gearbeitet, hab meine Professur gekriegt und dann kamen die Kinder. Wir haben AuPair-Mädchen und Haushälterinnen engagiert. Und unser Leben ging immer so weiter. Wischblende.
112.
Wohnzimmer. SIRTALI, mit Gummihandschuhen, telefoniert. Neben ihr der Staubsauger und andere Putzuntensilien. SIRTALI: Gerade hat ein Filmregisseur angerufen. Er hat dich in der Talkshow gesehen. – Er will dich zum Casting einladen. – Soll ich dir seine Nummer geben? Wischblende.
113.
PETRA führt ihr Pferd , FELIX führt LAURAS Pferd in den Stall. LAURA telefoniert. LAURA: Habt ihr was zu schreiben? Ein Filmregisseur will mich zum Casting einladen. Vielleicht kriege ich die Hauptrolle! FELIX hat sofort einen Kugelschreiber in seinen Hosentaschen gefunden und gibt ihn LAURA. LAURA schreibt die Telefonnummer auf ihre Handfläche: 0172-38 56 74. PETRA: Vielleicht hat er ja auch eine kleine Rolle für mich. Bitte frag ihn. LAURA will FELIX den Kugelschreiber zurückgeben. FELIX: Du kannst ihn behalten. Ich hab zuhause jede Menge Kugelschreiber. Wischblende.
114.
Fußballplatz. CAROLIN steht wieder im Tor. MARTIN stürmt mit dem Ball heran, will schießen, doch CAROLIN ist diesmal schneller. Sie kickt den Ball zwischen seinen Füßen weg. MARTIN fliegt der Länge nach hin. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Er faßt sich an sein Bein. CAROLIN: Tut mir leid. Das wollte ich nicht. Ist etwas gebrochen? MARTIN: Ich hab starke Knochen. So schnell brechen die nicht. CAROLIN: Kannst du aufstehen? MARTIN steht vorsichtig auf und humpelt, gestützt auf CAROLIN vom Platz. MARTIN hat Tränen in den Augen, wischt sie aber schnell, so daß CAROLIN sie nicht sieht, weg. CAROLIN: Alle meine Freundinnen finden dich total nett. MARTIN: Ja? Abblende.
115.
Aufblende. SUSI SÜSSMILCH und ANTON machen ihren Spaziergang im Park der Nervenklinik. SUSI: Ich weiß, daß du mich betrogen hast. Immer wieder. Hast du wirklich gedacht, daß ich das nicht merke, daß ich nichts spüre? ANTON schweigt. SUSI: Manchmal warst du so heiß darauf, mit mir zu schlafen, da war mir klar, du hast dich verliebt und weil das Mädchen nicht so wollte wie du, hast du mit mir vorlieb genommen. Hast du nur die geringste Ahnung von dem, was Frauen wissen? ANTON schweigt noch immer. SUSI: Ich hab dich nie betrogen. Jetzt hab ich mich in einen Mann verliebt, weil du mich nicht mehr liebst. Ich hab sowas unter Kontrolle, aber du nicht. Du hast immer jedem Mädchenrock nachgeschaut. ANTON: Ich hab immer nur auf die Beine geguckt. Ich liebe Frauenbeine. Ist das so schlimm? SUSI: Aahbee! Die Beine hören ja auch irgendwo auf. Erzähl mir jetzt bitte nicht so einen Quatsch! Du bist nicht mehr Achtzehn! SUSI bleibt an einem Baum stehen und schaut Anton an. SUSI: Als wir uns kennengelernt haben, bin ich mit dir in eine Discothek gegangen. Wir haben ganz wild miteinander getanzt. Das war toll! Dann kam ein langsames Stück und wir haben ganz eng miteinander getanzt. Enger ging’s nicht mehr. Und dein Schwanz wurde immer größer und du hast ihn an meine Beine gequetscht, daß ich nicht mehr wußte, was ich als nächstes mit dir anfangen soll. Ich wußte, du willst ALLES. Ich fand das toll, wollte aber vorher noch lange mit dir reden. Aber du wolltest, nachdem alles so weit war, nicht mehr reden, sondern nur noch mit mir schlafen. Ich hab dann irgendwann kapituliert. Das war mein Fehler! Ich hätte länger warten sollen. Dann hätte ich dich besser gekannt. Und du mich auch. Ich war damals plötzlich pitschnaß zwischen den Beinen. Ich bin sicher, daß du das gerochen hast. Das war doch so oder nicht? ANTON: Ich weiß das nicht mehr so genau. Manchmal kann man das riechen. SUSI: Ich war zu allem bereit. Dann hast du plötzlich angefangen, von Platon und Sokrates zu reden. Das fand ich toll. Deshalb habe ich dich geheiratet. Ich dachte, Philosophie und Sex zusammen, besser kann das Leben nicht sein. Ich hatte damals genau wie du auch schon ein paar Freunde gehabt. Die haben ein bißchen an mir rumgemacht und ich hab sie gelassen. Schließlich muß man als junges Mädchen ja mal wissen, wie sowas ist. Dann kamst du und mit einem Schlag war alles anders. Bei dir waren Kopf und Schwanz eine Sache. Ich hab mich mit dir als Frau entdeckt. Ich wußte, was ich vom Leben wollte. Nämlich das, wie du warst. Also DICH! ANTON lächelt SUSI an. ANTON: Du liebst mich immer noch! Wischblende.
116.
SUSITWO und HANS stehen am Ufer der Krummen Lanke. Sie rauchen und schauen auf das Wasser und auf die Enten, die ganz aufgeregt vor ihnen herumschwimmen, denn sie hoffen, daß sie gefüttert werden. HANS: Ich muß in Physik und Mathe unbedingt eine Eins kriegen. Ich will ins Max Planck-Institut für Theoretische Physik. Und dann werde ich solange arbeiten, wenn es sein muß, Tag und Nacht, bis ich die definitive Weltformel entdeckt habe. SUSITWO: Du kannst das schaffen. Da bin ich sicher. (Pause) Aber hast du dann auch noch Zeit für mich? HANS küßt SUSITWO. HANS: Für dich werde ich immer Zeit haben. Denn du bist schön! Abblende.
117.
Aufblende. Ein großer, fast leerer Raum. Ein REGISSEUR, seine ASSISTENTIN und LAURA. REGISSEUR: Laura, stell dir einmal vor, deine Mutter und dein Vater sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Du bist zuhause. Die Polizei ist am Telefon. Kannst du auf der Stelle weinen? LAURA: Ich weiß nicht. Ich versuch’s mal. REGISSEUR: Ich bin die Polizei. Ich rufe dich an. Da ist das Telefon. Verstehst du, wenn ich anrufe, bin ich „die Polizei“. Im Film bist du Hannah Beyer. Melde dich mit diesem Namen. Okay, Achtung! Das Telefon neben Laura klingelt. LAURA hebt ab, sagt: Hier ist Hannah Beyer. Dann hört LAURA lange in das Telefon. Der REGISSEUR sagt nichts. LAURA legt den Hörer auf. Sie setzt sich neben das Telefon auf den Boden und schaut vor sich hin. REGISSEUR: Versuch doch weigstens mal zu weinen. LAURA: Da kann man nicht weinen. (Pause) Ich würde nicht weinen. Wischblende.
118.
Hochhaustotale. Nacht.
119.
ANTON besucht SUSI in ihrem Zimmer in der Nervenklinik. SUSI strahlt in an. SUSI: Der Arzt hat gesagt, ich bin wieder gesund. In drei Tagen werde ich entlassen. Ab heute kriege ich keine Medikamente mehr. ANTON: Das sind ja wunderbare Nachrichten. SUSI: Weißt du, Aabeh, ich habe mir gedacht, wir beide fahren zwei Wochen zu Isabella nach Italien. Sie hat uns seit Jahren eingeladen, aber wir sind nie hingefahren. ANTON: Keine schlechte Idee. Ich hätte auch dazu Lust. SUSI legt den Goetheband weg, steht auf und geht zu ANTON. SUSI: Hast du mit ihr auch geschlafen? Bitte sei ganz ehrlich. ANTON: Nein. Nie! SUSI: Immerhin ist sie deine Freundin. ANTON: Trotzdem. SUSI: Ich hab mit ihr telefoniert und ihr ein bißchen von uns erzählt. Wir haben das Haus für uns allein. Sie fliegt nach Rom. Der Nachbar hat den Schlüssel. Wir könnten am Mittwoch gleich von hier aus hinfahren. Aber vorher möchte ich die Kinder sehen. Ich hab für Dienstag einen Tisch beim Chinesen bestellt. Martin ißt doch so gerne chinesisch. SIRTALI packt den Koffer für mich. Bitte vergiß ihn nicht. (Pause) Vielleicht können wir mal zusammen im Meer schwimmen. Das haben wir noch nie gemacht! Wischblende.
120.
Ein chinesisches Restaurant. ANTON sitzt mit SUSITWO, MARTIN und LAURA an einem Tisch. Sie warten auf SUSI. MARTIN: Papa, bist du sicher, daß man sie aus dem Krankenhaus rausgelassen hat. ANTON: Ja. Ich hab heute morgen mit ihr telefoniert. SUSITWO: Papa, darf HANS, wenn ihr weg seid, einmal bei uns übernachten? Er könnte ja im Zimmer von Thomas schlafen.
121.
Ein Taxi hält vor dem chinesischen Restaurant. SUSI steigt aus, bezahlt das Taxi mit einem Fünfzig-Euroschein. SUSI: Der Rest ist für Sie. TAXIFAHRER: Oh! Das ist aber wirklich großzügig. SUSI: Heute ist mein Glückstag. Ich möchte, daß es Ihnen auch gut geht. Auf Wiedersehen. SUSI geht ins Restaurant.
122.
Im Restaurant. SUSI SÜSSMILCH umarmt ihre Kinder, zuerst MARTIN, dann SUSITWO, dann LAURA. LAURA: Mama, ich krieg die Hauptrolle in einem Kinderfilm. Ist das nicht soll? Und ich kriege 5.000 Euro Gage. Papa hat gesagt, ich muß dich fragen, ob ich das darf. SUSI: Jetzt möchte ich mich erst mal hinsetzen, ist das okay? SUSI setzt sich neben ANTON. SUSI: Hallo Anton! ANTON: Endlich sind wir alle mal wieder zusammen. SUSI: Ich möchte vorher den Regisseur des Films kennenlernen. LAURA: Aber du fährst doch mit Papa zwei Wochen nach Italien! SUSI: Er muß solange warten. Wenn er wirklich überzeugt ist, mit dir den Film zu machen – das kann ja nur in den Sommerferien sein – wird er solange warten. Ich geb doch meine Tochter nicht in die Hände von irgendeinem Dahergelaufenen. LAURA: Es ist sein zweiter Film. Für den ersten hat er einen Preis gekriegt. SUSI: Ich will ihn trotzdem kennenlernen. Wischblende.
123.
Im Restaurant. Totale. Alle essen. Keiner sagt was. Wischblende.
124.
Vor dem chinesischen Restaurant wartet ein anderes Taxi. SUSI SÜSSMILCH verabschiedet sich von ihren Kindern. SUSITWO umarmt SUSI. SUSITWO: Ich wünsche dir und Papa alles Gute in Italien! SUSI umarmt MARTIN. MARTIN: Tschüß Mama! Dann umarmt SUSI LAURA. LAURA: Wenn du zurückkommst, ist hoffentlich alles wieder wie früher. SUSI: Das denke ich nicht. Das hoffe ich nicht! Nichts wird so sein wie früher, weil Thomas nicht mehr da ist. Aber das, was wir dann machen, wird euch gefallen. Da bin ich mir ganz sicher, weil ich euch drei von ganzem Herzen lieb habe. SUSI steigt ins Taxi. Das Taxi fährt weg. Abblende.
125.
Aufblende. Autobahn. Nacht. ANTON BOGENBAUER und SUSI SÜSSMILCH fahren nach Italien. ANTON sitzt am Steuer. Seine Augen fallen ihm immer wieder zu. SUSI: Wenn du weiterfährst, sind wir beide bald tot. Laß mich fahren! ANTON: Bist du sicher, daß du fahren kannst. SUSI: Ich bin so wach wie noch nie zuvor im Leben.
126.
ANTON fährt auf einen Parkplatz. Beide steigen aus. SUSI setzt sich ans Steuer. ANTON setzt sich auf den Beifahrersitz. SUSI stellt den Sitz und den Rückspiegel für sich ein und fährt dann wieder auf die Autobahn.
127.
Die Sonne geht auf. SUSI fährt. ANTON schläft. SUSI ist kurz vor Genua. SUSI weckt ANTON. SUSI: Hast du gut geschlafen? ANTON: Wie ein Bär. Du bist die beste Autofahrerin, die ich kenne. SUSI: Wir sind kurz vor Genua. Du mußt mir helfen, den Weg zur Fähre zu finden.
128.
Auf der Fähre von Genua nach Sardinien. Die Sonne scheint. Das Meer ist blau. SUSI und ANTON stehen am Bug des Fährschiffes. SUSI: Ich hab während der Autofahrt lange nachgedacht. Alles ist möglich. Wir beide stehen an einem Scheideweg. Wir könnten nochmal neu miteinander anfangen. Wir könnten uns jetzt aber auch trennen. Ich hab mich noch nicht entschieden. ANTON: Was muß ich machen, daß du dich für mich entscheidest. Ich bin zu allem bereit, denn ich liebe dich noch immer. SUSI: Da kannst du jetzt gar nichts mehr machen. ANTON: Das ist unfair. Ich bin dein Mann! SUSI: Das weiß ich nicht mehr. ANTON: Und der Vater deiner Kinder. SUSI: Bitte hör auf zu reden. Guck doch einfach auf’s Meer und versuche mal nichts zu denken. Stell dir vor, es gibt nur die Gegenwart, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Ist es nicht schön hier? Ich freue mich auf Sardinien!
129.
SUSI sitzt am Steuer. Sie fahren durch ein Tal, das aussieht wie in einem amerikanischen Western. ANTON ist bedrückt.
130.
SUSI schließt Isabellas Haus auf. ANTON holt zwei Koffer aus dem Kofferraum und folgt ihr.
131.
Im Haus. SUSI: Es ist schön hier. ANTON: Mir gefällt es auch. SUSI: Wir hätten viel früher mal Isabella besuchen müssen. Schade, daß sie nach Rom fliegen mußte. Ich hab sie eigentlich immer gemocht. Obwohl ich mir nie ganz sicher war, ob du mit ihr nicht mal eine Liebesgeschichte gehabt hast. ANTON: Sie war meine beste Freundin. Sowas wie eine Mutter. Wenn’s mir dreckig ging, konnte ich sie anrufen. SUSI: Es gibt auch Liebesgeschichten zwischen Müttern und Söhnen, oder? ANTON sagt nichts darauf. Er öffnet die Fenster des Wohnzimmers. SUSI: Du warst also wirklich der brave Junge, der nichts anderes im Kopf hatte, als seine „Mutter“ zu verehren und sich ab und zu von ihr trösten zu lassen? ANTON: Wir haben uns manchmal geküßt. Aber ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist, daß ich noch nie mit ihr geschlafen habe. SUSI: Vielleicht war Isabella so stark und hat nein gesagt. Isabella ist schließlich eine sehr, sehr schöne Frau!
132.
Ein Gästezimmer. ANTON zieht sich aus. SUSI kommt ins Zimmer. SUSI: Gute Nacht, Ahbee, schlaf gut. ANTON: Meinst du nicht, es wäre besser, wenn wir heute Nacht mal wieder in einem Bett schlafen. SUSI: Ich habe nein gesagt und bleibe dabei. SUSI gibt ANTON einen Kuß auf die Backe. ANTON legt sich ins Bett. SUSI schaltet beim Rausgehen, als wäre ANTON ein Kind, das Licht im Zimmer aus.
133.
SUSI legt sich in ihr Bett. Sie schlägt das Buch mit den Goethegedichten, das sie offensichtlich mitgenommen hat, auf und liest darin. Abblende.
134.
Aufblende. SUSI und ANTON frühstücken in einem Café am Meer. ANTON überfliegt das Titelblatt einer italienischen Zeitung. Sie reden nicht miteinander.
135.
Totale. SUSI hält den Wagen an einem großen Sandstrand. Beide steigen aus und gehen zum Wasser. Es gibt noch keine Touristen um diese Zeit.
136.
Als SUSI am Wasser angekommen ist, zieht sie ihre Schuhe aus und geht ins Meer. Sie hebt ihren Rock hoch und geht immer weiter ins Wasser. Dann bleibt sie stehen und beobachtet die Wellen. Darüber das „Adagio“ von Albinoni.
137.
SUSI kommt zurück zu ANTON. SUSI: Ahbee, ich hab mich entschieden. Sie zeigt ihm ihre rechte Hand mit dem Ehering. Sie zieht den Ehering vom Finger, was nicht ganz leicht ist, aber sie ist entschlossen. Dann wirft sie ihn, so weit sie kann, ins Meer. SUSI: Das war meine Entscheidung. Ich hoffe, du kannst sie akzeptieren. ANTON ist fassungslos, kann nichts sagen. Ihm schießen plötzlich Tränen in die Augen. Er macht keinen Versuch, sie vor SUSI zu verbergen, weil er hofft, sie damit zu beeindrucken. Er macht ein Gesicht, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Er setzt sich in den Sand und schaut verzeifelt auf das Meer. SUSI geht zu ihm, streichelt ihm ein bißchen wehmütig über den Kopf und geht dann weg.
138.
SUSI, immer noch barfuß, geht den Strand entlang.
139.
ANTON ruft ihr nach: Susi! Warte doch mal!
140.
SUSI dreht sich nicht zu ihm um. Sie geht ungerührt weiter. In eine vielleicht bessere Zukunft.
THE END |