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Die Zeit, 16. Juni 1972   Enno Patalas, Man muß nicht alles glauben
Wolfgang Limme,   Wie eine Würstchenbude in der Wüste


MAN MUSS NICHT ALLES GLAUBEN

von Enno Patalas
Die Zeit
16. Juni 1972
Wilhelm Busch heißt der Zug, mit dem der Held in die 'fremde Stadt' kommt. Eine Bildergeschichte beginnt, von bösen Buben und frechen Streichen und mit deutlichen Pointen.
Eine Kriminalgeschichte, die an einen Reigen, ein kindliches Abschlagspiel erinnert. Immer tanzt oder rennt einer hinterm anderen her. Der da ankommt per Wilhelm Busch, hat in einer anderen Stadt eine Bank beraubt. Ein Kriminaler heftet sich an seine Fersen. Dem folgt ein charmantes Pärchen. Und wird seinerseits verfolgt von einem zweiten Kriminalen, der das Pärchen ausgesandt hatte, um den ersten Kriminalen zu beschatten, von dem er weiß, daß er den Räuber beschattet. Sie sehen immer nur, wen sie vor sich haben, und schaun sich nicht um.
Vom Bahnhof läßt sich der Ankömmling in ein Hotel fahren. Wie er am Morgen darauf ein frisches Hemd anzieht, die Krawatte bindet: einer der in eine neue Haut schlüpft, sich eine neue Form gibt und das genießt. Er schaut sich an im Spiegel und spricht sich selber an: "Philipp Kramer! Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen." Roger Fritz in diesem Film: Ein Alain Delon ganz ohne dessen miese Maschen.
Wenn er dann gefragt wird. "Wer ist Philipp Kramer?", dann gibt er zur Antwort: "Ein Mann mit Zukunft." Das denken sie alle. Dabei hängt die Vergangenheit mit Bleiklumpen an ihnen, sie haben es nur noch nicht gemerkt. Ähnlich wie in DETEKTIVE, den ersten Spielfilm von Rudolf Thome, dessen Drehbuch auch von Max Zihlmann war, geht die Geschichte gleichzeitig nach vorn und hinten los. Sie startet an einem Nullpunkt, verstrickt sich aber um so mehr in die Vergangenheit, je weiter die vermeintlich jungfräuliche Zukunft fortschreitet. Alle müssen erfahren: Auch die Zukunft ist nicht mehr, was sie einmal war.
Die Zukunft: Pläne, Träume. Die Vergangenheit: Geschichten. Einmal meint einer hoffnungsvoll: "Jetzt bist du scharf auf meine Geschichte." Jeder hat eine Geschichte parat, auf die er stolz ist. Dann verheddert er sich darin und in den Geschichten der anderen, verliert den Überblick und sitzt fest. Einmal sagt ein Kind, dem der Bankräuber gerade eine Bankräubergeschichte erzählt: "Ich glaub kein Wort, ich glaub kein Wort!" Darauf der Geschichtenerzähler: "Du kannst mir glauben." Auch der Zuschauer muß nicht alles glauben - den Geschichten nimmt das weder ihre Logik noch ihren Reiz.
Hollywood ist das heimliche Vorbild der Thomeschen Figuren, sie imitieren Handlungen, ohne sie ausfüllen zu können. Immer spürt man die Reduktion der globalen Attitüde auf Deutsch-Provinzielles. Bis ins Detail: Da gehen zwei 'ganz groß aus' von den geklauten Millionen, und was trinken sie? Kalterer See. Aus Zinnkrüglein.
Die 'fremde Stadt' ist München. Ein Münchner Film - in Frankfurt nimmt man ihm das übel. Da stimmt jedes Detail, von den Lichtreflexen auf der Windschutzscheibe, wenn das Taxi vom Bahnhof wegfährt, bis zur Bayernhymne im Autoradio zum Programmschluß. In allen Thome-Filmen ist die Rede von Tokyo oder Marokko, in diesem hier von Kenya, Papua und vom Oberlauf des Amazonas. Fische von dort wünscht sich einer - für sein Aquarium. Die Filme selbst kommen in ihrer Handlung auch nie über Starnberg hinaus.


WIE EINE WÜRSTCHENBUDE IN DER WÜSTE

Wolfgang Limme Würde der Trotta die Halbfaß Ruth ins Kino einladen, gingen sie bestimmt in einen Faßbinder-Film. Blanker Kommerzialismus und blinde Subvention haben die noch verbliebenen Schäfchen im Jammertal des deutschen Films, um sie jeweils auf ihre Weise ins trockene zu bringen, unversöhnlich und unvereinbar auseinandergetrieben. In den Kinos der Bahnhofsviertel werden frustrierte Bedürfnisse , auf die man einen Anspruch hat, scheinbefriedigt; in den vornehmeren "Filmtheatern" west (und verwest) ein Anspruch, für den gar kein echtes Bedürfnis vorhanden ist. Trivialität - huch! - darf höchstens Thema bleiben, nicht zum Stil werden. Während die Arbeiter- und Bauernfänger ihrem entfremdeten Publikum das Pipizeug von Pipimädchen vor die geilen Augen halten, mußten die Jungfilmer wegen ein paar verschwindend geringer Subventionen ihren Staatsmäzenen solange mit der Behauptung, Film sei Kunst, in den Ohren liegen, daß sie nun sogar selbst dran glauben. Die deutsche Filmindustrie ist entweder eine Dame ohne Unterleib, oder ein Unterleib ohne Dame.

Zwischen Porno und dem Bundesinnenministerium liegt ein weites Niemandsland, dessen Wege nicht mit dem Filmgroschen markiert sind, und da hausen mit anderen auch Rolf Thome und Max Zihlmann. Ihre Erfahrungen mit dem Film sind Erfahrungen mit der Schwierigkeit, Geld aufzutreiben. Deshalb machen sie, wenn sie Filme machen, Filme übers Geld. Zihlmanns List geht ins Drehbuch ein, Thomes List reißt Produktionsmöglichkeiten auf. In den Großstädten Deutschlands hat er Kinobesitzer dazu gebracht, ihm zu garantieren, sie würden seinen Film spielen, wenn er einen brächte. Mit diesen Garantien ging Thome zu Arri, die ihm einen Kredit für Kameraausrüstung, Schneideraum, Synchronisation etc. einräumte. "Fremde Stadt" entstand ohne einen Pfennig Eigenkaptal.

Praktizierter Sozialismus im Krimigenre: Ein Mann kommt mit 2 Millionen Mark, die er aus einer Bank gestohlen hat, in die Stadt, in der seine geschiedene Frau lebt. Er braucht ihr Konto, um dort das Geld nach und nach einzahlen zu können. Ein Ganovenpärchen hat sich an die Spur des Mannes geheftet. Den Tip hat es vom Polizeipräsidenten, der seine Wettschulden dadurch finanziert, daß er Tips abgibt und dafür die Hälfte der Beute bekommt. Außerdem schnüffelt da ein Kriminalkommissar herum (Ganz ausgezeichnet: Peter Moland). Nach turbulenten Wirren landet das Geld schließlich auf dem Bett in der Wohnung der Frau, und alle Beteilgten sitzen drum herum. Da ist für jeden genug da, also teilt man. Der Polizeipräsident kann seine Schulden bezahlen, der Ganove wird sich seinen langersehnten Porsche kaufen können, der Kriminalkommissar kann endlich zu seiner Weltumsegelung starten, der Mann und die Frau samt gemeinsamem Kind fahren in die Berge. Nur der Untermieter, ein Aquariumnarr, möchte nicht mehr Geld als zur Anschaffung einer seltenen Fischart nötig ist.

Das Selbstverständliche als erregende Ausnahme: Max Zihlmann kann Geschichten und Figuren erfinden. Rudolf Thome kann diese Geschichten erzählen, einfach, gerade, unprätentiös, wie Hawks oder Walsh. Ein Gebrauchsfilm im Brechtschen Sinne, ein Hollywood-Bildband im handlichen Taschenformat, schwarz-weiß, Cinemascope immerhin. Aber es ist nichts mehr von der Verkrampfung der ersten Schwabinger Filme da, die den großen amerikanischen Vorbildern ums eigene Verrecken nacheifern wollten. Zihlmanns Bücher sind konkreter, atmosphärischer geworden, sie haben mehr "Geruch" angenommen, der Lapsus "Supergirl" (ein Buch, das schon vor "Detektive" und "Rote Sonne" geschrieben wurde) ist vergessen. Zihlmns Liebe zu schrulligen Details korrespondiert glänzend mit Thomes Unfähigkeit, eine Szene exakt zu timen (der Film ist fast 2 Stunden lang). Aber was kümmert der Faden, wenn das Labyrinth fasziniert.

Ein Krimi ohne Tote und ohne Materialschlacht, ein neuer deutscher Film ohne kunstgewerblichen Tiefgang, eine Geschichte zum Anschauen, während hierzulande nur noch Filme gedreht werden, in denen man gleich alles durchschauen muß, ein Film, der nichts beweisen will, außer der Überraschung, daß man sich zwei Stunden gut unterhalten lassen kann - ein solcher Film müßte eigentlich täglich gedreht werden. Filme wie dieser wären eine kleine Notwendigkeit wie die Würstchenbuden an der Straßenecke. In unserer Zelluloidwüste nimmt er sich sympathisch grotesk aus. Aber dafür kann er wirklich nichjts. Sollte Ihnen trotz all des Subventionshautgouts der Gaumen noch nicht eingeschlafen sein, nehmen Sie diesen Snack mal zwischen Reitzkartoffeln und Schaafskäse.

MAN MUSS NICHT ALLES GLAUBEN

Lukas Foerster
critic.de

15. September 2017

Fremde Stadt (1972) beginnt wie Rudolf Thomes bekanntester Film Rote Sonne (1970) mit einem Mann, der alleine in München ankommt und dort eine Ex wiedertrifft, die er noch immer liebt. Aber der Film macht aus dieser Ausgangssituation nicht nur etwas völlig anderes; man hat darüber hinaus das Gefühl, dass sich in den lediglich zwei Jahren, die zwischen den Filmen liegen, etwas Grundlegendes verändert hat. In Thomes Kino, aber vielleicht auch in der Welt, in die es eingebettet ist. Nicht nur diese eine, sondern jede Stadt ist fremd geworden.
Besser kann man einen Trenchcoat nicht tragen

Was ist Fremde Stadt für ein Film? Laut Thome war das ein Versuch, einen echten B-Film zu drehen, so billig wie möglich, und im Gegensatz zu seinen ersten drei Arbeiten in Schwarz-Weiß. Fremde Stadt fügt sich in das Werk der Thome-Lemke-Zihlmann-Gruppe, weil es offensichtlich wieder um angewandte Cinephilie geht, diesmal um den Versuch, einen Poverty-Row-Cheapie [LINK: de.wikipedia.org/wiki/Poverty_Row ] in München zu inszenieren. Mit einem Genreplot, der von Max Zihlmann nach allen Regeln der Kunst entworfen wird, zumindest bis kurz vor Schluss (der Schluss hat es in sich). Gegossen in atmosphärische, kontrastarme Scope-Bilder. Dazu ein wunderbares, ironisch-desillusioniertes Titellied („I only hope you find it easy / and easy is the answer when it comes“), bei dem man sich fast so sehr wie bei dem zugehörigen Film wundert, wie es derart komplett in Vergessenheit geraten konnte. Und als Hauptdarsteller Thomes Regiekollege Roger Fritz, was sich als regelrechter Besetzungscoup erweist: Besser als Fritz in diesem Film kann man einen Trenchcoat nicht tragen.
„Psychopath, wa?“

Der Bankraub, der vorderhand das Thema ist, wurde schon erfolgreich durchgeführt, wenn der Film anfängt. Was wir sehen, ist der Nachhall: Kontaktaufnahmen, Beschattungen, Verhandlungen, Verwicklungen, Verstrickungen. Man merkt, während Fremde Stadt sich dann eben doch so gar nicht in B-Movie-Hektik, sondern in Thome-typischer Seelenruhe durch München bewegt, dass es dabei weniger um Spannungsaufbau geht als um einzelne Gesten. Wie Fritz tänzelnd einem Hund ausweicht. Die ausnehmend elegante Art der überhaupt äußerst lässigen Karin Thome, eine Süßspeise zu verzehren. Oder auch einzelne Dialogzeilen: Während einer Geiselnahme fragt eine der bedrohten Frauen spöttisch, wie unbeteiligt, mit einem fast schon neckischen Seitenblick in Richtung Geiselnehmer: „Psychopath, wa?“ Eine andere (wieder Karin Thome) antwortet noch ungerührter, selbstsicher im Bild rumstehend, als befände sie sich auf einer etwas langweiligen Party: „starke Neurose“. Ein Film, der sich immer wieder von großartigen Nebendarstellern ablenken lässt, in der die Kamera den für die Handlung nebensächlichen Hotelangestellten, Sprechstundenhilfen und Untermietern ganz selbstverständlich genauso viel Aufmerksamkeit schenkt wie den Hauptfiguren. Ein Film, dem Fritz’ schwarze Handschuhe lange Zeit wichtiger sind als der Koffer voller Banknoten, der in seinem Hotelzimmer liegt.
Fremde Stadt ruft noch einmal liebevoll, allerdings nicht nur ein wenig melancholisch, einige Eckpunkte des Schwabing-Kosmos auf, den Thome-Lemke-Zihlmann und auch andere Mitstreiter wie May Spils und Werner Enke einige Jahre lang zum Leuchten gebracht hatten, der aber Anfang der 1970er bereits am Zerfallen war. Am schönsten vielleicht im von Christian Friedel gespielten, schluffigen Untermieter Schrott, der von einem blauen Diskusfisch am Amazonas träumt, während um ihn herum bereits alle damit beschäftigt sind, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. „Alle müssen erfahren: Auch die Zukunft ist nicht mehr, was sie einmal war.“ (Enno Patalas)
Eine eigenwillige Form bürgerlicher Autonomie

Fritz und sein love interest Karin Thome sind zwar durchaus so etwas wie das ultimative Glamour-Paar der Schwabinger Gruppe, aber wenn die beiden mit ihrem gemeinsamen Sohn beim Frühstück sitzen, dann könnte das bereits fast eine Szene aus einem Thome-Film der 1980er oder 1990er Jahre sein. Der wie erwähnt wirklich außergewöhnlich letzte Akt soll hier nicht vorweggenommen werden, aber der Fluchtpunkt von Fremde Stadt ist offensichtlich nicht mehr, wie noch in Rote Sonne, die Kommune, in der Leben, Kunst und Arbeit auf oft blutige Art ineinander übergehen. Sondern eine eigenwillige Form bürgerlicher Autonomie, deren Schönheiten, Ironien und Utopien Thome sein Werk ab den 1980er Jahren verschreibt.
Insofern ist Fritz ist ein Vorgänger insbesondere von Hanns Zischlers Figur in Berlin Chamissoplatz, aber auch von vielen anderen späteren Thome-Hauptfiguren: Männer, die sich zwar auf alles Mögliche einlassen, vor allem auf und für Frauen, die dabei aber stets auf einen gewissen Bewegungsspielraum achten. In diesen Figuren spiegelt sich ein Regisseur, der sich bald nach Fremde Stadt komplett vom Genrekino abwendet und der sich stattdessen das Recht herausnimmt, komplett unabhängig von allen Trends und Moden eine eigengesetzliche, autarke filmische Welt zu erschaffen. Damit in Verbindung steht ein neuer, entspannterer Zeithorizont. Es geht nicht mehr darum, sich in jedem Moment, mit jedem Film neu zu erfinden, sondern darum, das eigene Werk als etwas Kontinuierliches zu betrachten, als etwas, das man pflegt wie einen Garten.
Lukas Foerster