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Rudolf Thome im Gespräch mit Gudrun Max und Karlheinz Oplustil, 21. Juni 2003, Niendorf

Sie ist eine Göttin

Bei ”Rot und Blau” hast du erstmals mit Hannelore Elsner gedreht. Wie kam es dazu?

Ich habe vor zwei Jahren in Florida ein Drehbuch geschrieben: ”Odysseus kommt nachhause”. Das wurde aber nicht akzeptiert.
Vor drei Jahren hatte ich Hannelore Elsner bei einem Empfang in Rom kennengelernt. Vorher kannte ich sie nicht, auch nicht aus meiner Münchner Zeit. Sie hatte mich damals gefragt, warum ich noch nie mit ihr einen Film gedreht hätte, und ich hatte gesagt, sie wäre ein Star und ich könnte sie nicht bezahlen. Als ich sie dann wieder traf bei den von Adriana Altaras im Theater inszenierten ”Vagina Monologen”, habe ich ihr gesagt, ich habe was geschrieben - dieses ”Odysseus”-Projekt, - aber leider sind alle Frauen unter dreißig, es ist nichts dabei für dich. Wir haben uns aber trotzdem gut unterhalten, und sie hat gesagt, sie will immer noch mit mir einen Film machen. Während der Berlinale habe ich dann bei der Degeto erzählt, dass vielleicht Hannelore Elsner spielen würde, und da waren die total enthusiastisch. Ich habe Hannelore Elsner sofort angerufen und gefragt: gilt das noch, dass du bei mir spielen willst? Sie hat gesagt: Ja klar, natürlich. Und dann habe ich mich hier auf meinem Bauernhof hingesetzt, im letzten Jahr im April und Mai, und habe das Drehbuch geschrieben: ”Rot und Blau”.

Wurde dieses Drehbuch speziell für Hannelore Elsner geschrieben?

Ja. Während des Schreibens habe ich immer wieder mit ihr telefoniert und sie gefragt: Kannst du singen? Kannst du auf einen Baum klettern? Die Szene, wo sie klettern sollte, habe ich dann doch nicht gedreht. Singen, sagte sie, kann sie schon. Und ich habe gesagt, du musst mit einem Baum sprechen. Das ist ja nicht so ganz einfach, das kann total ins Auge gehen. Dann hat sie das Buch gelesen, als es fertig war. Sie hat zu dem Zeitpunkt in Kapstadt gedreht und ich hatte ihr das an ihre Produktion gemailt, und die haben es für sie ausgedruckt. Sie hat mir dann gefaxt: ja, alles wunderbar. Dann habe ich ihr einen Vertrag gefaxt. Den hat sie unterschrieben und sofort zurückgefaxt. Und dann haben wir angefangen. Während der Dreharbeiten gab es oft Momente, da wäre ich am liebsten vor ihr auf die Knie gesunken. Sie ist die wunderbarste Schauspielerin, mit der ich je zusammengearbeitet habe. Wenn ich mit ihr drehe, passiert etwas ganz und gar Magisches, ich bin verzaubert. Ich sehe, sie spielt gut, aber es kommt noch etwas hinzu, das ich nur schwer beschreiben kann. In meinem Drehtagebuch im Internet habei ich bei ”Rot und Blau” geschrieben: ”sie ist eine Göttin”.

Millimetergenau

In welcher Reihenfolge ist gedreht worden?

Insgesamt habe ich alle Szenen mit Hannelore Elsner am Anfang gedreht. Wir haben mit den Szenen im Haus in der Uckermark angefangen. Es war von Anfang an ganz genau festgelegt, mit welchen Szenen wir am ersten Drehtag die Dreharbeiten beginnen. Die erste Einstellung war, wie Hannelore Elsner mit dem Auto angefahren kommt. Das war schon mal gut, weil sie Autofahren kann, sie fährt wirklich millimetergenau Auto. Das haben wir einmal gedreht und das war’s. Das war schon mal ein guter Start. Dann geht sie zum Haus. Das haben wir auch nur einmal gedreht. Sie geht dann ins Haus, aber das haben wir später gedreht, weil das Wetter so gut war. Wir haben dann gedreht, wie sie hoch geht zu der Gartenbank. Da wurden alle von Mücken zerstochen, nur Hannelore Elsner nicht. Und dann noch am gleichen Tag die Szene im Bett, wie sie mit Adriana Altaras aufwacht – im Drehbuch ein Fünf-Seiten-Text, den wir in einer Einstellung gedreht haben. Zu dem Zeitpunkt noch sehr einfach in einer Totalen und zwei halbnahen Einstellungen. Sie musste jedesmal den ganzen Fünf-Seiten-Text machen. Und dieser Text hat ja nun auch seine Tücken gehabt, denn da ist das schwierigste gewesen, aus dem Alltäglichen heraus auf die Geschichte zu kommen mit der Vergangenheit, mit Rot und Blau. Sie musste von Belanglosigkeiten springen auf eine Geschichte, die vor 35 oder 40 Jahren passiert ist. Das klappte aber gut. Und da hat es sich als sehr vorteilhaft erwiesen, dass Hannelore Elsner und Adriana Altaras sich sehr gut verstanden, auch befreundet sind, weil Hannelore Elsner bei Adriana in den ”Vagina-Monologen” mitgespielt hat. Ich habe gedacht, für Hannelore Elsner ist es ein guter Einstieg in die Thome’sche Drehwelt im Beisein von Adriana Altaras, die ich ja nun wirklich in- und auswendig kenne und die mich auch in- und auswendig kennt. Zwischen uns beiden ist eine unglaubliche Vertrautheit vom ersten Film an dagewesen, bei ”Das Mikroskop”.

Zeitreisen

Wie weit spielte bei ”Rot und Blau” der Titel als Ausgangspunkt eine Rolle?

Wie immer bei mir steht der Titel am Anfang. Ich glaube, es ging sehr schnell, dass ich auf die Idee kam. Ich hatte gleich am Anfang, ich glaube am zweiten Tag, die Idee, ich mache nicht nur einen Film, sondern eine Trilogie, und habe diese Trilogie ”Zeitreisen” genannt. Das ist ja ein Hobby von mir, das mit den Zeitreisen. In ”Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan” gibt es ja auch einen Zeitreisenden. Die Zeit und was damit zusammenhängt, ist etwas, was mich schon immer fasziniert hat, und so war dann die Idee mit den Zeitreisen da. Und bei Zeitreisen gibt es immer drei Möglichkeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich habe am Anfang gleich geschrieben ”Zeitreisen: Rot und Blau”, wo dann sofort diese Kindheitsgeschichte von Hannelore Elsner da war. Also das, was ihr als junges Mädchen widerfahren ist, dass sie von einem Baum heruntergefallen ist und geblutet hat und sich nur ein Junge aus der Schulklasse um sie gekümmert hat, und der hatte einen rotblau gestreiften Pullover. Deswegen Rot und Blau. Dann war gleichzeitig da auch der Titel des nächsten Films: ”Zeitreisen – die Gegenwart: Frau fährt, Mann schläft.” Die große Begeisterung, die dieser Titel bei meinen Mitarbeitern und anderen Leuten ausgelöst hat, hat mich dazu gebracht, es auch tatsächlich so zu machen. ”Zeitreisen – die Zukunft” steht natürlich noch aus. Da gibt es noch keinen Titel.

Das Motiv der Zeit taucht ja auch schon in deinen Kurzfilmen auf, in ”Galaxis”. Es lässt sich praktisch durch alle deine Filme verfolgen. Worauf führst du das zurück?

Ich weiß es nicht. Ich hab früher schon immer gerne Science-Fiction-Romane gelesen. Und da oben in meiner Bibliothek stehen mindestens sieben, acht Bücher über die Zeit. Die sich mit dem Zeitproblem oder überhaupt mit dem Begriff ”Zeit” befassen. Das war immer schon meine Sache und mein Lieblingsphilosoph Georg Picht ist der Philosoph der Zeit schlechthin, wie überhaupt die moderne Philosophie sich damit befasst. Denke an Heideggers ”Sein und Zeit”. Aber der neue Film geht viel mehr darauf ein. Wenn ich eine Trilogie ”Zeitreisen” nenne, muss es ja damit was zu tun haben. Ich werde in diesen drei Filmen nicht das Problem der Zeit lösen, das kann ich nicht. Aber alle drei Filme haben ihr Thema, also Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Als explizites Motiv ist es sehr gegenwärtig, in allen drei Filmen. In ”Rot und Blau” taucht die Vergangenheit überall auf, an allen Ecken.

Jede Bewegung ist wichtig

Samuel, der Junge mit dem rotblau gestreiften Pullover, hat Barbara damals gerettet. Als Kind gibt er ihr Hilfe und Schutz, er ist der einzige, der bei ihr bleibt, der nicht wegläuft wie alle anderen, als sie vom Baum fällt. Samuel gibt ihr auch am Schluss Schutz und Hilfe und rettet sie praktisch ein zweites Mal: indem er mit ihr ”poussiert”, wie du das sagst, und der Mann eifersüchtig wird und wieder etwas für sie empfindet. Samuel ist am Anfang der Retter und auch am Schluss. Hast du das auch so gesehen?

Es bleibt offen, was zwischen Samuel und Barbara passiert, das ist nicht eindeutig. Samuel taucht halt wieder auf. Aber viel wichtiger als das Auftauchen von Samuel ist das Wiederauftauchen ihrer Tochter, die sie zwanzig Jahre nicht gesehen hat. Das ist die zentrale Geschichte des Films: die Wiederbegegnung mit ihrer Tochter, um die sie sich nicht gekümmert hat. Darum geht’s. Dass ihre Tochter wiederum mit Samuel verknüpft ist, das ist auch ein wichtiges Moment. Er führt in einem gewissen Sinn die beiden ja wieder zusammen. Insofern stellt sich für mich seine Funktion als Retter dar. Der Moment, wo Barbara und Samuel sich zum ersten Mal begegnen und er sie wiedererkennt und sie ihn wiedererkennt, ist ja fast genau so wichtig wie der Moment, wo die Tochter die Mutter zum ersten Mal spricht und die beiden sich zum ersten Mal treffen. Zwei der sicherlich wichtigsten Szenen des Films. Vor allem, wenn die Tochter die Mutter zum ersten Mal sieht. Das passiert ja auf einem Parkplatz am Wannsee, auf einem großen leeren Parkplatz am Wannsee. Die Tochter wartet auf ihre Mutter, und dann kommt die Mutter angefahren und steigt aus. Wir zeigen das aus einer absolut unglaublichen Distanz, in einer Totalen. Das schien uns die richtige Art, es so zu zeigen. Denn wenn man so weit weg ist, guckt man viel genauer auf jede Bewegung, auf jede Körperhaltung. Die kleinste Kleinigkeit spielt aus der Distanz eine größere Rolle als wenn wir nah dran gewesen wären. Jede Bewegung, jede Handhaltung, jede Armbewegung, alles ist wichtig.
Je weiter man weg ist, desto genauer guckt man hin. Wir zwingen im Grund genommen den Zuschauer, seine Aufmerksamkeit zu intensivieren, weil wir so weit weg sind. Man sieht halt alles. Die Geographie spielt ja auch eine Rolle, wo sie genau mit dem Auto hinfährt. Wie sie die Tür aufmacht und aussteigt und wie sie auf ihre Tochter zugeht. Was die Tochter macht. Die hockt ja auf so einem Stein und steht dann auch auf, aber nur zwei, drei Schritte. Nur bis zu ihrer Autotür, die offen steht. Vielleicht um notfalls ganz schnell einzusteigen und wegfahren zu können.

Das ist der entscheidende Punkt in der Handlung. Ich glaube, das funktioniert auch sehr gut aus dieser Distanz. Ist das auch mal näher gedreht worden?

Nein. Die nächste Einstellung, wo die beiden beieinander sind und reden, haben wir näher gedreht und etwas weiter, also so eine Art amerikanische Einstellung. Aber wir haben die weitere Einstellung genommen und nicht die nähere, weil man in der weiteren noch mehr von der Körperhaltung sieht. Die Körperhaltung vor allem der Tochter finde ich da extrem wichtig. Jeder andere hätte das in Großaufnahmen gezeigt mit Schuss, Gegenschuss.

Ein sehr schöner Augenblick ist der Anruf der Tochter bei der Mutter. Er ist auf unglaublich einfache Weise eingeleitet, aber sehr wirkungsvoll. Wie sie da zum Fenster hingeht, als sie diese Informationen über ihre Mutter liest. Man sieht ihr Gesicht, aber sie sagt erstmal nichts. Und dann eben der Anruf, der für sie ja sehr viel bedeutet, und die Reaktion von Hannelore Elsner …

Der bleibt die Sprache weg. Die weiß gar nicht mehr, was sie machen soll.

Das sehe ich als große Qualität des Filmes an, diese Art, wie das alles in der Schwebe bleibt. Das ist eigentlich ein hochdramatischer Augenblick, aber es wird so ganz leicht gezeigt. Es ist sehr witzig, wenn Samuel in diesem hochdramatischen Augenblick eingreift und ihr souffliert, wo sie sich treffen sollen, und dass Ilke nachher sagt, sie braucht einen Whisky, zu dem Detektiv, der immer einen Whisky trinkt. Stimmt denn diese Beschreibung von dem Bootssteg tatsächlich? Samuel sagt ja ”Steinlanke”, ”Havelchaussee”, und: ”erster Parkplatz”.

Ja. Dass er ihr den Treffpunkt souffliert, ist doch selbstverständlich. Sie kennt sich ja in Berlin noch nicht aus. Außerdem: Wo würde man sich treffen in so einer Situation? Ilke würde mit Sicherheit nicht in die Wohnung der Mutter gehen. Nun kommt meine Vorliebe für das Wasser hinzu, also ganz klar am Wasser, am Wannsee.

Und du hast an dem Bootssteg schon öfter gedreht?

Ja. Wir haben ”Tigerstreifenbaby” da gedreht, ”Just Married” und ”Der Philosoph”. Immer wieder andere Szenen und andere Kameraleute. Jeder filmt das anders. Deshalb sieht die gleiche Stelle am Wannsee in jedem dieser vier Filme ganz anders aus.

Die Strafe Gottes

Als sie zum Wasser runter laufen, rutscht Barbara aus und verletzt sich dabei. Dann kommt ein sehr harter Spruch von Ilke: das ist die Strafe Gottes. Meint sie das ernst?

Sie sagt ”vielleicht ist das die Strafe Gottes”. Das ist schon ein Unterschied. Sie sagt dann ja hinterher auf dem Bootssteg, dass sie Barbara immer wieder Briefe geschrieben hat, und dass sie Zeiten hatte, wo sie ihre Mutter umbringen wollte, auch jetzt noch. Also, sie meint das schon ernst, denke ich. Es ist kein Scherz.

Es ist kein Scherz, aber es ist für diesen banalen Unfall, der es ja ist, ein sehr großes Wort.

Das ist natürlich auch ironisch aus der Perspektive des Erzählers, also aus meiner Perspektive. Ich meine das nicht wirklich im Ernst. Für Hannelore Elsner war es ein Problem, ungefähr die Hälfte des Films mit Krücken herumzulaufen. Ich habe gesagt: das muss sein, denn für das Sich-Nicht-Kümmern um die Tochter, dafür muss eine Strafe sein. Die Strafe ist der Beinbruch. Und es muss als sichtbare Strafe den halben Film über zu sehen sein. Sich nicht um ein Kind zu kümmern, das ist schon eine ganz harte Sache. Und das ist hier ja so gewesen. Sie hat Gründe gehabt, aber wenn sie unbedingt gewollt hätte, hätte sie was machen können.

Sie nimmt es als Strafe dann auch an.

Ja, das ist ganz wichtig. Die Tochter entschuldigt sich beim ersten Besuch in der Wohnung ihrer Mutter dafür, dass sie das gesagt hat. Aber Barbara besteht darauf: das war richtig so, dass du das gesagt hast. Sie will es auch so gesehen haben. Sie sagt vorher schon zu dem Arzt: das ist eine Strafe.

Man denkt dabei natürlich auch an Hanns Zischler in ”Paradiso”, der in der zweiten Hälfte des Films ein Pflaster am Kopf hat, weil er von seinem Sohn geschlagen worden ist.

Es ist im Grund genommen die gleiche Geschichte. In ”Paradiso” ist es das Wiedertreffen des Sohnes, hier ist es das Wiedertreffen der Tochter.

Intuitiv schreiben, intuitiv spielen

Warum greifst du diesen Konflikt zweimal auf?

Es ist eine Problematik, die mir auf jeden Fall nahe geht. Obwohl das manche Leute sagen, mache ich nicht Filme, um meine persönlichen Probleme zu lösen. Ich erfinde Geschichten, die mich interessieren. Mich hat diese Personenkonstellation interessiert. Es kann sein, dass das nach drei Filmen wieder auftaucht. Ich weiß es nicht. Ich weiß ja nie vorher, was ich schreibe. Ich denke nicht darüber nach, was könntest du jetzt machen, sondern ich entwerfe sehr unbewusst eine Geschichte aus dem heraus, was mir in dem Moment einfällt, wo ich mich zurückziehe, um ein Drehbuch zu schreiben. Dass das Unbewusste richtig ist, haben wir jetzt beim Drehen von ”Frau fährt, Mann schläft” noch mehr gemerkt als bei ”Rot und Blau”. Weil Hannelore Elsner als Schauspielerin ähnlich funktioniert wie ich als Autor. Sie ist auch sehr unbewusst und denkt nicht über den Sinn von Szenen und Dialogen nach. Jetzt beim Drehen des neuen Films haben wir gemerkt, dass meine intuitiv geschriebenen Dialoge fast immer sehr viel besser waren als die Dialoge, wie sie Peter Lund bearbeitet hat. Wir haben gemerkt, dass alles, was ich ziemlich unbewusst geschrieben habe, viel stimmiger war, und sind beim Drehen oft zu meiner Version zurückgekehrt. Vor allem in der zweiten Hälfte des Films, bei der ersten haben wir es noch gar nicht so gemerkt.
Wir merken manchmal erst beim Drehen, was für ein Film es wird. Der Film dreht sich manchmal fast von alleine. Natürlich nicht wirklich. Es gibt immer nur bestimmte Möglichkeiten, Sachen zu drehen. Und da kommt auch das besondere Verhältnis dazu, das ich zu dem Kameramann habe. Auch der funktioniert so, der denkt sich nichts aus und setzt es dann in Bilder um, sondern er arbeitet total intuitiv. Wir sehen eine Szene und wissen dann beide im Grund genommen, die kann man nur so drehen.

Wart ihr euch zum Beispiel bei dem Treffen auf dem Parkplatz einig: das wird aus dieser großen Distanz gedreht?


Sofort. Wie ja überhaupt im ganzen Film die Distanz, die die Kamera zu den Schauspielern hat, eine größere Rolle spielt als in fast allen meinen Filmen vorher.

Dagegen ist ”Das Geheimnis” sehr nah gedreht.

Da wollte ich in die andere Richtung.

Lied vom Birnbaum

Auffallend ist die große Distanz auch bei der Szene, wo Hannelore Elsner den Baum umarmt.

Es ist ein älterer Birnbaum, der älteste, den wir auf dem Grundstück, wo wir gedreht haben, gefunden haben. Im Drehbuch war es zwar ein Walnussbaum – ich hab dabei an meinen Walnussbaum hier im Garten gedacht – wir haben aber dann doch den Birnbaum genommen, weil das wieder passte zu dem Lied, das Hannelore Elsner auf ihrem Geburtstagsfest singt. Es ist ja das ”Lied vom Birnbaum”, ein Volkslied. Wir haben diese Szene auch ganz nah gedreht. Ein wunderschönes Bild! Man sieht ihr Gesicht und die Rinde des Baumes. Man sieht da auch Beziehungen: die Spuren, die das Leben in ihrem Gesicht hinterlassen hat. Aber wir haben beim Schneiden dann doch die distanziertere Version genommen, weil die Tatsache, dass sie mit einem Baum spricht, intensiver wirkt, wenn die Kamera weiter weg ist. Es geht da auch um den Respekt, den die Kamera vor so einer intimen Szene hat. Man spricht nicht mit Bäumen, wenn andere Leute dabei zuschauen.

Bei dem Lied vom Birnbaum, das Barbara auf dem Geburtstagsfest singt, ist die Kamera auch erstmal sehr weit weg, wenn sie anfängt zu singen, und es ist von hinten aufgenommen.

Natürlich filmt man eine Person, die ein Lied singt, von vorn. Das tue ich ja dann auch. Wir wollten aber auch die Leute zeigen, die das hören. Wie sie reagieren. Es geht schließlich nicht nur um die Figur der Barbara, sondern um eine ganze Familie: ”Rot und Blau” ist ein Film über eine Familie. Und da passiert im Hintergrund, wenn man Barbara und Ilke von hinten sieht, noch etwas ganz Wichtiges: Gregor, ihr Mann, den sie kurz vorher losgeschickt hat, um seine Gitarre aus dem Haus zu holen, kommt mit Gitarre zurück und steht etwas bedeppert da, denn sie hat nicht auf ihn gewartet mit dem Singen. Sie behandelt ihn wie einen Trottel. Aus seiner Perspektive ist sie ein Monster. Da kann sie noch so gerührt sein, wenn dann Ilke anfängt, ein türkisches Lied zu singen.

Die Szene mit dem Baum kam mir ein bisschen vor wie ein innerer Monolog. Es ist kein wirklicher innerer Monolog, weil sie ja tatsächlich spricht, wie vorher auf der Gartenbank.

In dem total verwilderten Garten, um den sie sich auch viele Jahre nicht gekümmert hat, in dem das Unkraut ein Meter fünfzig hoch ist. Da geht sie durch das Gestrüpp zur Gartenbank, setzt sich da hin und wird nachdenklich: was hab ich hier mal machen wollen. Da redet sie auch zu sich selbst. Das hab ich vorher für mich hier ausprobiert. Ich bin beim Schreiben im Garten herumspaziert und habe ausprobiert, ob man – bei klarem Verstand – zu sich selbst sprechen kann. Es funktioniert. Ich würde es heute, wenn ich es noch mal drehen würde, vielleicht noch ein bisschen besser hinkriegen. Aber das war da das beste, was wir konnten. Es ist eine stufenweise Steigerung: zuerst ein Selbstgespräch, und dann ein Gespräch mit einem Baum.

Ilke und die Familie

Im Kern ist die Geschichte ja eigentlich so, dass sich Mutter und Tochter wieder finden. Der Konflikt ist dabei, ob sie sich verstehen können, ob sie sich überhaupt annähern wollen.

Wenn die Mutter für die Tochter singt, wirbt sie ja richtig um sie. Das Lied, das sie da singt, das ist ja eine richtige Liebesgeschichte, eine Werbung um die Liebe ihrer Tochter. Sie schmilzt ja richtig dahin. Und die Tochter antwortet ja auch darauf. Wenn dann die Tochter anfängt zu singen, reagiert Barbara darauf und beginnt den Refrain ganz leise mitzusingen. Das heißt also, es ist ein Lied, das sie ganz offensichtlich kennt, von Ilkes Vater. Als ich das gesehen habe beim Drehen, kamen mir die Tränen. Das war wie ein Konzentrat ihrer ganzen Beziehung. Ein paar Minuten später geht sie dann zu ihrer Tochter, die mit Joya an der Hängematte ist, und sagt: einen Wunsch hätte ich noch zum Geburtstag - dass du ”Mama” zu mir sagst. Und die Tochter ringt mit sich und sagt nach einer Weile: ich kann das nicht. Das sagt schon sehr viel, was geht für sie, für die Tochter, und was nicht. Also die Wunde ist immer noch da und heilt auch wahrscheinlich nie zu. Der Film endet dann ja relativ versöhnlich. Die Tochter ist offensichtlich bei der Mutter. Die Mutter bügelt ein Hemd von ihrem Mann und stellt sich dabei ein bisschen dumm an. Die Tochter sagt: Ich kann das nicht sehen, komm, lass mich das machen, und bügelt dann sehr geschickt weiter. Die Mutter hat noch gefragt: Kannst du bügeln? Ilke sagt: Ich kann alles, kochen, bügeln, Wäsche waschen. Mein Papa hat immer gesagt, das ist wichtig für eine Frau.

Das ist natürlich auch sehr ironisch.

Klar. Aber diesen kleinen Seitenhieb auf die frauenbewegten Frauen – es gab ja Frauen, die fanden ”Paradiso” frauenfeindlich! – konnte ich mir nicht verkneifen.


Sein Herz öffnen

Wie bist du auf das Lied von Barbara gekommen? Das ist ja ein sehr eigenartiges Lied.


Beim Schreiben hatte ich die Idee, sie muss ein Lied singen. Es ist ein Volkslied. Dieses Lied hat Peter Lund vorgeschlagen. Er hat das Drehbuch gelesen und hat dann dieses Lied vorgeschlagen. Ich kenne mich nicht aus mit Liedern.

Was ist das Lied, mit dem Ilke antwortet?

Das ist ein Vorschlag von Serpil gewesen. Das war auch nicht so einfach. Bei Hannelore Elsner habe ich gedacht, na ja, die wird das schon hinkriegen. Bei Serpil war es sehr viel schwieriger. Da habe ich gedacht, dass das kann sehr heikel werden. Ich habe sie ins Büro gebeten und habe gesagt: Kannst du das? Sie hat gesagt, ich kann nur ein Lied. Und dann hat sie es gesungen. Ich war hin und weg, aber es war ein Lied von einer bekannten Sängerin in der Türkei, für das wir niemals die Rechte bekommen hätten. Wir brauchten ein Volkslied, das Allgemeingut ist. Und dann haben wir ein Volkslied genommen und ein Lied – sie singt ja zwei Lieder – , das ein Verwandter von ihr komponiert hat.

Waren die Lieder schwierig zu drehen?

Es war ganz leicht. Weil beide Schauspielerinnen das einfach so gemacht haben.

Auch das erste Lied, das Ilke singt, ist von hinten oder von der Seite gedreht.

Da zeige ich vor allem die Zuschauer. Die Kamera fährt zurück. Ich beginne mit der Familie, dann erst kommt Serpil ins Bild. So wie die Familie reagiert, bedeutet diese Szene die Aufnahme, die Integration in die Familie. Alle hören zu mit ganz großem Ernst. Ein Lied zu singen, das gehört mit zum Schwierigsten überhaupt. Weil man dabei sein Herz öffnen muss. Man muss sich total öffnen, um singen zu können. Das ist für alle Leute schwierig. Und Serpil konnte das.

Das ist ein ganz herausgehobener Moment. Er enthält den Kern der Geschichte, also ob es möglich ist, dass die verlorene Tochter wieder in die Familie integriert wird, dass die Familie wieder vollständig wird.

Ja natürlich. Wo dann auch wichtig ist, wie die einzelnen Familienmitglieder sich ihr gegenüber verhalten. Zum Beispiel die Tochter, Joya, für die ist Ilke ja überhaupt kein Problem. Die nimmt sie mit offenen Armen auf und ist sofort dabei. Was ja eine ganz wunderschöne Szene ist, wenn Serpil Joya ins Bett bringt und wo Joya sagt: ich möchte auch so sein wie du, ich möchte auch ein großes Mädchen sein. Und wo sie fragt, wirst du zu uns ziehen? Und Serpil antwortet: nein, große Mädchen brauchen ihre eigene Wohnung.


Die Vergangenheit verbrennen

Gleich am Anfang kriegt man mit, dass da etwas nicht in Ordnung ist zwischen den beiden, Barbara und Gregor, schon wenn Hannelore Elsner das Haus verlässt und aufs Land fährt.

Die Kinder helfen ihr, das Auto zu beladen und dann fährt sie weg. Sie sitzt dann im Auto und fährt, man sieht sie ganz nahe – eine Zufahrt mit der Kamera auf ihr Gesicht – und da laufen ihr Tränen runter.Man hat natürlich keine Ahnung zu dem Zeitpunkt, und fragt sich, warum heult sie. Was ist mit ihr los? Es muss nicht die Ehe sein. Es kann ihr ganzes Leben sein. Sie fährt ja da raus, um, wie sie sagt, ”ihre Vergangenheit zu verbrennen”, und macht dann dieses gigantische Feuer im Garten. Wie sie das macht … also erstmal ist es ein bisschen leichtfertig, inmitten des ganzen Gestrüpps so ein Feuer zu machen. Es ist ja heiß, die Flammen schlagen richtig hoch. Sie hat ja einen ganz wilden Blick. Etwas Hexenartiges hat es fast, ein Hexentanz um das Feuer ist dieses Verbrennen Sie verbrennt alles Mögliche, Stühle, Schuhe, Akten, Briefe.. Es sind sicherlich nicht nur die Ehejahre, die da verbrannt werden, sondern mehr. Sie ist sicherlich mit ihrem ganzen bisherigen Leben unzufrieden, wozu der Ehemann natürlich auch zählt. Und erst als es vorbei ist, kommt ja die Freundin, die Adriana an. Das Feuer ist ja schon längst aus, da ist nur noch die Asche. Was hast du denn da gemacht? Ich hab meine Vergangenheit verbrannt. Barbara sagt auch hier wieder einen Satz, den man eigentlich nicht sagen kann, der ein bisschen zu hoch gegriffen ist. Aber so wie es passiert, mit dieser frechen, unverschämten Freundin, gespielt von Adriana Altaras, die sie einfach behelligt, kann man das natürlich sagen. Das reizt mich halt auch, solche Sätze, die man nicht sagen kann, trotzdem jemand sagen zu lassen.


Die Nacht mit Samuel


Über die Beziehung zu ihrem Mann erfährt man eigentlich relativ wenig, außer dass er sich zu sehr um Computer kümmert.

Das ist nicht das Thema des Films. Darum geht’s dann im nächsten Film. Darum geht es nicht. Das ist nur ein Nebenaspekt. Das Zentrum ist eben die Geschichte mit der Tochter. Und im Gefolge der Tochter eben auch noch der frühere Freund. Wo ja sehr, sehr offen ist, was da nun eigentlich passiert mit diesem Jugendfreund Samuel. Sie vergraben ja nun das Geld… Erst macht Barbara den Samuel an und sagt: Mit dir würde ich am liebsten nach Italien fahren, und er ist eher ein bisschen brummelig. Dann sieht man sie an der Stelle, wo sie das Feuer gemacht hatte, also direkt unter der Feuerstelle, die Erde ausheben. Hanns Zischler hebt die Erde aus mit einem Spaten, sie sitzt daneben, sie hat ja Krücken, und schmeißt dann die Plastiktüten mit den 500 Euro-Bündeln da hinein. Er vergräbt das Geld. Und dann sehen wir die beiden erst wieder bei Tag, wenn er sie mit seinem Wagen vor ihrem Haus absetzt. Da strahlt sie ihn an, küsst ihn auf den Mund und sagt: Schlaf gut. Und wenn er dann wegfährt und sie einen Moment dasteht – das wegfahrende Auto ist in dem Moment wie eine Blende – da wirkt sie total aufgeblüht wie ein verliebtes junges Mädchen. Was ist dazwischen passiert? Was da passiert ist, bleibt offen. Aber wenn man eins und eins zusammenzählt, kann man sich ausrechnen, dass die nicht die ganze Nacht über dieses Geld vergraben haben.


Gregors Kapitulation?


Was wird aus der Beziehung mit Gregor?

Am Schluss kommt ihr Ehemann, der den Jugendfreund aus Eifersucht K.O. geschlagen hat, nach Hause. Sie ist da mit ihrer Tochter Ilke beim Bügeln und trinkt Wein. Gregor entschuldigt sich für das, was er gemacht hat. Dann sagt sie: Das ist nicht genug, dass du dich bei mir entschuldigst. Du musst dich vor mir auf den Boden legen und dreimal sagen: Ich werde nie wieder zu viel Alkohol trinken, Alkohol macht aggressiv. Und das macht der dann und die beiden Frauen lachen. Und sie trinkt dabei Rotwein. Das sind die Widersprüche des Lebens.

Wobei sie auch nicht aggressiv geworden ist trotz der Mengen von Rotwein.


Die Szene gibt auch einen Hinweis darauf, wie die Geschichte ausgeht: dass die verlorene Tochter Ilke mehr oder weniger in die Familie integriert wird, und dass die Ehe zwischen den beiden halt mehr oder weniger schlecht weitergeht.

Sie könnte auch gut weitergehen.

Vielleicht. Ich meine, er kapituliert vor ihr.


Dreamteam


In deinen Notizen im Internet von den Dreharbeiten hast du immer von einem Dreamteam gesprochen. Offenbar war es ein sehr angenehmes Drehen. Kannst du uns etwas über die Dreharbeiten erzählen?

Das war märchenhaft. Wir haben uns einfach unglaublich gut verstanden. Es waren viele Liebesgeschichten gleichzeitig, natürlich im übertragenen Sinne. Das war eine Liebesgeschichte – wie immer bei mir – zwischen der Hauptdarstellerin, Hannelore Elsner, und mir. Und dann war es eine absolut irrwitzige Liebesgeschichte zwischen Michael Wiesweg, dem Kameramann, und mir. Der sagte nach einer Woche zu mir: von einem Regisseur, wie du es bist, hab ich mein ganzes Leben lang geträumt. Und ich habe gesagt, das kann ich dir zurückgeben, mir geht es genau so. Und entsprechend war dann die Arbeit. Wir waren einfach verliebt, richtiggehend verliebt, und dann ist das Leben einfach wunderbar. Und alle haben es genossen, weil es war auch – wir sind ja nicht schwul - die absolut unschuldigste Liebe, die sich vorstellen lässt. Eine Praktikantin malte dann in einer Wohnung, die wir mit Packpapier auskleiden mussten, damit die Wände nicht beschädigt wurden, auf das Packpapier ein Herz mit einem Pfeil durch und darauf ”Rudolf und Michael”. So weit ging das. Wenn dann so ein Klima ist, dann ist das Drehen ein absolut utopisches Glück. Was sich natürlich nicht wiederholen lässt. Aber aus angenehmen, glückseligen Dreharbeiten müssen nicht gute Filme entstehen. Aus den schwierigsten Dreharbeiten können die besten Filme entstehen. Beides hat miteinander überhaupt nichts zu tun. Das Resultat ist eine Sache, die völlig für sich steht.

Wie bist du auf Michael Wiesweg als Kameramann gekommen?

Er hat im Kino ”Paradiso” gesehen und hat mir eine e-mail geschickt, ob ich nicht mal Lust hätte, mit ihm eine Tasse Kaffe zu trinken. Ich glaube, er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass ich einen Kurzfilm mit einem solchen Titel gedreht habe. Und ich hab zurückgemailt: Ja, warum nicht. Als es dann soweit war, dass ich ein Filmprojekt anging, hab ich ihn angerufen und habe mich zwei Stunden mit ihm unterhalten, und ich habe ihn gefragt, von was für einem Regisseur er als Kameramann träume, und ich hab ihm erzählt, von was für einem Kameramann ich träume. Das war ein bisschen so wie bei Leuten, die sich auf Heiratsanzeigen hin zum ersten Mal treffen. Bei uns beiden passten die gegenseitigen Wünsche verdammt gut zusammen. Dann kam nun das Drehen. Und die Vorbereitung fing damit an, dass er sich bei Dreharbeiten in der Türkei den Fuß gebrochen hatte. Also das, was Hannelore Elsner im Film spielen sollte, hatte er gerade am eigenen Leib erfahren. Und bis zum ersten Drehtag ging er mit Krücken durch die Gegend.


Der schöne Tag

Wie hast du Serpil Turhan gefunden?

Im letzten Jahr im Januar machte das Filmfest in Würzburg eine Mini-Retrospektive von mir und gleichzeitig eine komplette Retrospektive von Thomas Arslan. In zwei von diesen Filmen spielte Serpil eine Hauptrolle, und sie war deswegen in Würzburg. Wenn sie nicht da gewesen wäre, wäre das wahrscheinlich nicht entstanden. Aber sie war da und wir waren im gleichen Hotel. Wir haben zusammen gefrühstückt und abends sind wir dann meistens zusammen durch die Kneipen gezogen. Wir haben uns einfach gut verstanden und am Ende dieser drei oder vier Tage habe ich zu ihr gesagt: Serpil, ich möchte mit dir einen Film machen. Michael Wiesweg hat in allen drei Filmen von Thomas Arslan die Kamera gemacht. Thomas Arslan hat bei mir in ”Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan” den Mann gespielt, der auf der Strasse erschossen wird. Damals kannte ich nichts von ihm, und er schrieb mir dann einen Brief, wo er sich bedankt hat dafür, bei mir in einem Film zu spielen. Er möchte keine Gage, es sei ihm eine Ehre, in einem Film von mir mitzuspielen. Wenn einem jemand so was schreibt, bleibt der Name natürlich im Kopf haften, und als ich die erste Gelegenheit hatte, einen Film von ihm zu sehen, habe ich mir den angeschaut. Das Verrückteste ist, Hannelore Elsner hat, als ich das Drehbuch von ”Rot und Blau” schrieb, beim Hinundherzappen im Fernsehen ”Der schöne Tag” gesehen. Beim Zappen ist sie da hängengeblieben und hat den Film bis zum Ende angeguckt. Als sie dann Serpil beim Drehen zum ersten Mal traf, sagte sie: ich kenn‘ dich doch, und ist mit offenen Armen auf sie zugegangen. Sie nahm sie als Tochter sofort an. Das hätte auch sehr schwierig werden können, aber das war überhaupt kein Problem. Die beiden sind ganz wunderbar miteinander gewesen. Und was auch ganz wichtig ist, das sind die Kinder. Die Kinder sind wirklich glaubwürdig die Kinder von beiden, von ihm und von ihr. Was nicht immer in meinen Filmen mit Kindern so funktioniert hat. Hannelore Elsner kam wunderbar klar mit Joya, und fast noch wunderbarer mit Nicolai.

Auch Karl Kranzkowski ist ganz hervorragend, zum Beispiel in der Anfangsszene, die sicher nicht so ganz einfach zu spielen war.

Die haben wir ganz am Schluß gedreht. Dabei sind wir dann richtig warm geworden. Ich meine, er ist gar nicht so einfach. Er ist befreundet mit dem Kameramann, und das hat es leichter gemacht. Michael Wiesweg hat ihn mir empfohlen. Dann haben wir uns getroffen. Normalerweise bin ich ja etwas zurückhaltend, wenn die Chemie nicht so stimmt. Aber wir haben uns dann über Computer unterhalten und das ging ja ganz gut. Ansonsten war seine Haltung sehr distanziert. Dadurch, dass er mit Michael Wiesweg befreundet war, war das ein bisschen entspannter. Ich habe halt gesehen, er spielt sehr genau, ich glaube ihm alles. Es war eine sehr schwierige Rolle, eine sehr undankbare Rolle. Und bei dieser Anfangsszene, die wir als letztes gedreht haben, da war das Eis zwischen uns geschmolzen, und das hat mich dann dazu gebracht, ihm im nächsten Film die Hauptrolle zu geben. Und das bereue ich nicht.


Das Geld des Teppichhändlers


Es gibt ja die Nebenhandlung mit dem Geld, das Ilke von ihrem Vater geerbt hat, und diese Kriminalgeschichte damit, dass das Geld in Sicherheit gebracht werden muss. Ich hab so ein bisschen das Gefühl, das versteht man nicht unbedingt beim ersten Sehen, was es damit auf sich hat und warum das Geld vergraben wird.

Weil es andere Leute gibt, die davon wissen und die hinter dem Geld her sind. Bei dem Bankdirektor geht um eine Geldwäsche. Darauf läuft es ja hinaus. Aber das geht nicht ohne Spuren.

Er sagt ja auch gleichzeitig: Sie können sich ein Haus kaufen und den Rest des Geldes im Garten vergraben.


Das ist natürlich ein Scherz. Aus der Sicht eines Bankdirektors ist das das Schlechteste, was man machen kann. Geld, das man irgendwo in die Erde tut, ist tot.

Und weshalb lächelt Ilke, wenn sie den Safe öffnet und nur einen Zettel vorfindet?

Das bisschen Geld, dass Hanns Zischler im Safe als Trinkgeld gelassen hat, ist ja dann weg. Offensichtlich steht auf dem Zettel ein Dankeschön. Es sind ja immerhin 500-Euro-Scheine. Bündel mit 500 Euroscheinen enthalten immer 50 Scheine. Ein Bündel sind also 250.000 Euro, und Hanns Zischler lässt zwei Bündel im Safe. Das ist nicht mehr nur ein Trinkgeld, sondern eher eine Abfindung.
Wir haben überlegt, ob wir da ein Insert machen oder nicht. Aber dann hätten wir den türkischen Text untertiteln müssen, weil die Leute, die das Geld geholt haben, ja wohl Türken waren. Wenn das Ganze ein Krimi gewesen wäre, hätte man natürlich diese Geschichte genau und sehr detailliert erzählen müssen. Da es aber kein Krimi ist, sondern um die Mutter-Tochter-Geschichte ging, war das natürlich nur ein Nebenaspekt, dem ich kein weiteres Gewicht beigemessen habe.

Samuel schenkt Barbara zum Geburtstag einen roten Ferrari. Wo hat er den her, mit welchem Geld bezahlt er sowas?

Er sagt doch, ich hab ihn sehr preisgünstig bekommen. Samuel ist ganz offensichtlich ein etwas zwielichtiger Detektiv.

So richtig einem Genre zuzuordnen ist der Film nicht. Eigentlich ist es ein Drama, um nicht zu sagen Melodrama, aber er ist von den Dialogen her eher als Komödie aufgezogen.


Aus einer bestimmten Perspektive sind alle Dramen auch Komödien. Ich liebe genau diese Perspektive.


Es gibt keine Zufälle


Barbara sagt ja einmal: es gibt keine Zufälle. Aber es gibt in der Handlung mindestens zwei extreme Zufälle. Einmal, dass Ilke ausgerechnet mit dem Mann ihrer Mutter im Zug sitzt, und dann, dass sie ausgerechnet an den Detektiv gerät, der der Jugendfreund ihrer Mutter ist. Hast du da keine Angst, dass dir die Zuschauer das nicht abnehmen?

Das ist genauso, wie ich nicht davor zurückschrecke, überdimensionierte Sätze zu benutzen, wie ”ich verbrenne meine Vergangenheit”. Wenn die zentrale Geschichte des Films in sich funktioniert, ist das völlig unerheblich, ob da ein bisschen schwer zu schluckende Zufälle dabei sind.

Es ist schon eine große Herausforderung an die Glaubwürdigkeit. Es hat etwas Märchenhaftes.

Das ist ein Grundzug fast aller meiner Filme, die ich geschrieben habe, dass sie diese Märchenkomponente haben, vom ”Mikroskop” angefangen. Da ist es ”1001 Nacht”, die Sache mit dem Mikroskop wird da gleichgesetzt mit Aladins Wunderlampe. ”Der Philosoph” ist ein modernes Märchen, da sagen die Frauen, sie seien ”Zeitagentinnen” oder sie seien Göttinnen. Wo laufen denn in der Wirklichkeit Frauen herum, die Göttinnen sind? Bei ”Sieben Frauen” ist es auch ganz extrem. Und bei ”Paradiso – sieben Tage mit sieben Frauen” noch extremer. Ich stoße die Leute ja richtig mit dem Finger drauf: Achtung, hier ist ein Märchen!