Blog |
Kurzfilme |
||
64 Die Versöhnung
66 Stella
67 Galaxis
67/68 Jane erschießt John, weil er sie mit Ann betrügt |
||
80 Hast Du Lust mit mir einen Kaffee zu trinken? 84 Zwei Bilder |
||
Spielfilme | ||
Info |
Poetik des Ungeplanten Es hätte genauso gut etwas anderes passieren können: in "Rot und Blau" spielt Rudolf Thome mit den Eventualitäten von Lebensläufen Wer Antworten sucht, wird sich verlieren in den Filmen von Rudolf Thome. Es gibt keine Lösungen und schon gar keine Auflösung in seinem Kosmos. Es gibt nicht einmal Fragen im klassischen Sinne, dafür ist alles viel zu klar. Thome bietet Eventualitäten an. Er fächert das Leben auf, in Momente, in denen etwas oder auch nichts geschieht. Aber da bleiben immer noch alternative Möglichkeiten: Es hätte genauso gut etwas ganz anderes passieren können. Und es ist dieser Konjunktiv, in dem Thome erzählt und in dem die Welt ihr Innerstes offenbart.Barbara und Ilke haben sich seit etwa 20 Jahren nicht gesehen - seit Ilkes Vater, ein überaus erfolgreicher türkischer Teppichhändler, Barbara verlassen hat. Nun treffen sich Mutter und Tochter auf einem verlassenen Parkplatz am Wannsee zum ersten Mal wieder. Die Befangenheit der beiden ist groß. Da sind natürlich die Schuldgefühle der Mutter und der Zorn der Tochter, doch auf Schuldgefühle kann man keinen neuen Anfang gründen. Also bleiben sie vorerst unausgesprochen. Um der erdrückenden Nervosität und Unsicherheit zu entfliehen, gehen sie zusammen vom Parkplatz zum See. Das Gelände ist nicht für Barbaras hohe Absätze geeignet, sie rutscht aus und verletzt sich am Fuß. Ein wenig spielerisch, aber eben nicht nur im Scherz bemerkt Ilke daraufhin: "Vielleicht ist das die Strafe Gottes, weil du dich nicht um mich gekümmert hast." Die Kamera als Registriermaschine Der Unfall als Strafe Gottes, das ist ein absurder, eigentlich ganz unzeitgemäßer Einfall und zugleich Ausdruck eines tiefen Wunsches. Natürlich wäre es beruhigend, wenn das Sprichwort wahr wäre und Gott kleine Sünden tatsächlich sofort bestrafen würde. Aber: Warum sollte Barbaras Stolpern mehr als ein Stolpern sein? Ihre Verletzung ist die Folge eines Fehltritts, sie hätte aber auch an die richtige Stelle treten können, stattdessen wäre vielleicht Ilke ausgerutscht, und niemand hätte von Gott und von Strafe gesprochen. Rudolf Thome bemüht sich, während dieser ganzen Episode einen gewissen Abstand zu beiden Figuren zu bewahren. Nur wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, geht er nah an sie heran. Sonst herrscht die Totale. Er drängt sich seinen Figuren nicht auf. Er gibt ihnen den Raum, den sie in einer solch schwierigen Situation für sich brauchen. Zugleich lässt Thome dem Raum selbst sein Recht. Der Parkplatz, der Steg und der See, das Dickicht am Ufer, alles hat seine eigene Realität. Diese Orte sind mehr als nur eine Bühne, auf der ein kleines Drama des Lebens aufgeführt wird. Sie selbst spielen mit und drücken dem Schauspiel ihren Stempel auf. Schließlich ist es der unwegsame Boden des Dickichts, der Barbara zum Stolpern bringt. "Der nicht sichtbare Mann hinter der Kamera ist nicht der Autor-Gott, der alles schon immer weiß. Er ist wie Warhol die Registriermaschine, die gleichermaßen von den alten Unterscheidungen fiktiv und dokumentarisch ein Auge hat für Minimales, Ungeplantes, das früher aus dem Rahmen und damit unter den Tisch fiel:" Das hat Frieda Grafe vor einem Vierteljahrhundert über einen ganz anderen Film von Rudolf Thome geschrieben, und es gilt immer noch. Thome ist weniger ein Erzähler als vielmehr ein Zeuge. Er lässt sich von seinem Auge für das Nebensächliche leiten und nicht von den Mechanismen des Erzählkinos und seinen Konventionen. So herrscht denn auch in "Rot und Blau" ein e völlig eigene Logik. Jenseits des Diktats der Wahrscheinlichkeit kann sich in diesem der Vergangenheit gewidmeten ersten Teil von Thomes neuer Zeitreisen-Trilogie alles perfekt zusammenfügen. Der Blick für das ansonsten Unbemerkte eröffnet eine neue Sicht auf die Welt, das Universum. Im Kleinen kann er größere Zusammenhänge entdecken, eine Gerechtigkeit, die vielleicht nicht ausgleichend, gewiss aber poetisch ist. Zu Beginn will die von Hannelore Elsner gespielte Barbara Bärenklau ihre Vergangenheit verbrennen. Ihr fünfzigster Geburtstag steht kurz bevor, und die Bilanz ihres bisherigen Lebens ist alles andere als positiv. Da sind die Erinnerungen in einem roten und blauen Pullover, ihre erste Liebe. Er hat ihr einmal geholfen, doch dann ist er spurlos aus Barbaras Leben verschwunden. Ihre Ehe mit dem Computerfachmann Gregor ist kaum mehr als Routine. Ihr Architekturbüro steckt in einer Krise. Und dann lastet natürlich noch das Wissen um die verlorene Tochter Ilke (Serpil Turhan) wie ein schwerer Schatten auf ihr, über den sie nicht einmal sprechen kann. Am Ende wird Barbara neben Ilke auch noch Samuel (Hanns Zischler), den Jungen in Rot und Blau, wiedergefunden haben. Die Vergangenheit ist nun nichts mehr, was auf den Scheiterhaufen eines verfehlten Lebens gehören würde, sie ist vielmehr Teil einer Zukunft, die unendlich viel zu versprechen scheint. Dazwischen liegen viele alltägliche und einige wahrhaft außergewöhnliche Momente, deren Summe nichts weniger als das Leben ist. Rudolf Thome verführt einen mit seinem unaufgeregten Stil regelrecht dazu, all diese Augenblicke zu beschreiben. Man möchte sie mit anderen teilen und ihren natürlichen Zauber immer wieder von neuem heraufbeschwören. Doch - und das macht Thome einem viel deutlicher bewusst als jeder vermeintlich alles wissende Filmemacher-Gott - jede Beschreibung und jede Nacherzählung kann nur Interpretation sein. Sie suggeriert Geschlossenheit, wo doch eigentlich Offenheit das entscheidende Prinzip ist. Man kann natürlich von "Rot und Blau" erzählen, aber das ist eine Aneignung, für die man einen hohen Preis bezahlt: den aller anderen im Film präsentierten Möglichkeiten. Um dem gerecht zu werden, muss man "Rot und Blau" nur sehen, möglichst immer und immer wieder. Sacha Westphal in Frankfurter Rundschau, 15.1.2004
Das Lied der Bäume „Rot und Blau“ – Rudolf Thome begibt sich auf eine erste filmische Zeitreise Einen Baum umarmen . . . Sich nicht nur an ihn anlehnen, verträumt, in die Sonne blinzelnd, die durch sein Gezweig dringt, sich nicht nur anschmiegen an seinen Stamm, schutz- und haltsuchend, seiner Stärke vertrauend. Nein, einen Baum in seine Arme schließen und fest an sich drücken und hoffen, dass man durch diese Umarmung seine eigenen Wurzeln wieder spüren, eine Verbindung zu seiner Jugend wiederfinden könnte und zum Leben, das man überhaupt nicht mehr im Griff hat. Einen Baum umarmen – Hannelore Elsner tut es zu Beginn dieses Films, in dem Wäldchen um ihre Uckermarksche Datscha. Sie will ihr Leben entrümpeln, aber ein Bruch mit der Vergangenheit bedeutet noch nicht automatisch einen Neuanfang. Das Selbstverständliche ist oft zweifelhaft bei Rudolf Thome, und nur das Unerwartete ist schließlich selbstverständlich. „Zeitreisen“ heißt die kleine Trilogie, die er mit „Rot und Blau“ beginnt, der erste Film ist der Vergangenheit gewidmet. An seinem Ende weiß man, dass man in die Vergangenheit nicht so ohne weiteres zurück kann, aber dass die Vergangenheit, wenn man ein wenig Glück hat, zu dir kommt – ein Rückkopplungseffekt, die Zeit einer Wiederkehr. „Noch bist du jung“, heißt es in einem Lied, das im Film gesungen wird, „noch blüht der Mai, bald ist die schönste Zeit vorbei . . .“Hannelore Elsner ist Barbara, eine mittelprächtige Architektin, Kettenraucherin, passionierte Rotweintrinkerin (im Freien und im Bett, allein und mit Freunden, gern auch aus der Flasche), hat zwei Kinder und einen liebevollen Lebensgefährten. Ihr fünfzigster Geburtstag steht bevor, das macht Probleme, aber dann kommt ein weiteres dazu, das alle anderen als nebensächlich erscheinen lässt. Eine weitere Tochter ist in der Stadt, Ilke, deren Vater, ein türkischer Teppichhändler, sie verlassen hat, mit dem Mädchen in die Heimat zurückgekehrt ist. Die Filme, die Rudolf Thome heute macht, handeln von Zufallsbegegnungen und von Wahlverwandtschaften, von Beziehungen, die die Menschen, die sie eingehen, für stabil oder absolut halten und die doch beim kleinsten Anstoß aus dem Gleichgewicht geraten. Sie handeln vor allem davon, wie diese Menschen sich weigern, das, was ihnen widerfährt, als ein Schicksal anzuerkennen. Eine Widerspenstigkeit, die sicher zeitgemäß ist, und die dennoch immer auch jenem Geist verhaftet scheint, in dem Thome vor vierzig Jahren anfing mit seinen Kinogeschichten. Ilke, das Türkenmädchen, das mit einem Koffer voller Geld mit dem IC in Berlin ankommt, ist wie eine Schwester der Sirene Marion – Catherine Deneuve in „La Sirène du Mississippi“ –, und in Barbara, die manche Männer gehen ließ in ihrem Leben, spüren wir eine Verwandte von Catherine, in „Jules et Jim“. Rudolf Thome sieht keinen Grund, den vergangenen Zeiten nachzutrauern, und den Formen des Kinos, die damals, in den Jahren der Neuen Welle, möglich waren – die Finanzierung war allerdings leichter, die Bereitschaft der Produzenten und der Verleiher, sich auf ein anderes Kino einzulassen. Dass Hannelore Elsner in „Rot und Blau“ spielt, ist ein göttlicher Glücksfall für den Regisseur – auf seine Weise ähnlich inspirierend, wie für Lars von Trier die Mitarbeit von Nicole Kidman es war bei „Dogville“. Elsner hat sich bereit erklärt, auch in den weiteren Teilen der Trilogie mitzumachen, der zweite, „Frau fährt, Mann schläft“, ist bereits abgedreht, der dritte, „Rauchzeichen“, ist in Vorbereitung und wird auf Sardinien gedreht. Die Starqualität, die Elsner in die Geschichte von Barbara bringt, reißt Löcher in die vertraute Thome-Welt, die Kamera bleibt lange auf ihrem Gesicht, um den Wechsel zu registrieren zwischen ein paar Tränen und einem eruptivem Lachen – die beide Zeichen einer befreienden Ungewissheit sind. Am Ende dieses kleinen Berliner „Le rouge et le bleu“ darf sie schlicht ein Lied singen, wie kleine Mädchen es tun, auf Familienfesten. Die Begegnung von Mutter und Tochter findet am Wannsee statt, auch hier gibt es erst mal eine stumme Umarmung. Aber die Naivität, die oft die Kritiker an Thomes Filmen enerviert, kaschiert nie, wie komplex diese Szenen und Momente sind. Schon deshalb, weil die Kamera mehr sieht, als die Menschen davor ihr zu geben glauben. Sie blicken sich nicht an, die Tochter und die Mutter, wenn sie sich, auf einem Bootssteg hockend, rauchend, von ihren Lebenswegen erzählen. Von der Liebe und der Leere und dem Hass: „Manchmal habe ich mir überlegt, wie ich dich umbringen könnte . . .“ Wenn die Mutter davonfährt, geht das Mädchen noch einmal zum Steg zurück, sie sitzt verloren vor der Weite des Wassers, umhüllt vom Abendlicht. Es geht um die Angst vor dem Alter in diesem Film, die offenbar ein Problem der Jugend ist. Von einem Birnbaum, der mit seiner Blüte nicht nur als Augenweide dient, handelt das Lied, das Barbara auf ihrem Geburtstagsfest singt: „Bald kommt die Zeit, bald kommt die Zeit, da ist er voller Süßigkeit . . .“ Natürlich ist Thome kein naiver Idylliker, um ihr dubioses Koffergeld unauffällig in Zirkulation zu bringen, zahlt Ilke kleine Beträge regelmäßig auf der Bank ein – „das Geschäft geht gut“, bemerkt der junge Angestellte, und man mag sich nicht ausmalen, was er da für Hintergedanken hat. Die Ordnung, zu der dieser Film endlich gelangt, kann das Chaos, das er in der Welt findet, nur bannen im Augenblick. „Denn dem Dichter“, schreibt Walter Benjamin in seinem magischen Wahlverwandtschaften-Aufsatz, „ist die Darstellung der Sachgehalte das Rätsel, dessen Lösung er in der Technik zu suchen hat.“ Die Lockerheit, mit der Rudolf Thome nun seine Filme baut, hängt auch damit zusammen, dass man mit den neuen digitalen Techniken und den Laptops die Bilder, die man von den anderen macht, sofort vor Augen hat – und ihnen gleich zeigen kann. Nun können die Blicke wahrhaft zirkulieren. FRITZ GÖTTLER in Süddeutsche Zeitung, 14. 1. 2004
Am Ende viel Wein Der Charlottenburger an sich: Rudolf Thomes Film „Rot und Blau“ Es gibt Momente, die so zerbrechlich sind, dass es sie nur in einem Film von Rudolf Thome geben kann. Zum Beispiel: Eine Berliner Architektin (Hannelore Elsner) verabschiedet sich von ihren beiden Kindern, um allein zu ihrem Wochenendhäuschen zu fahren. Im Auto kommen ihr plötzlich die Tränen. Durch die Windschutzscheibe sehen wir sie weinen und lächeln. Nichts wird erklärt, und doch ist alles klar, so wie es manchmal ist im Leben.Noch ein Moment: Vor ihrem Sommerhaus hat Elsners Heldin ein Lagerfeuer aus allerlei Gerümpel und ihrer Vergangenheit entfacht. Es weht ein leichter Sommerwind, Vögel zwitschern, Grillen zirpen, und im Gras zittert die Sonne. Weibliche Selbstfindung, einsame Midlife-Crisis? Plötzlich stapft eine Freundin (Adriana Altaras) über die Wiese und zieht zwei Flaschen Rotwein aus der Handtasche. Seit vielen Jahren erzählt Rudolf Thome in seinen Filmen von Menschen aus Berlin-Charlottenburg, in deren leicht saturierte Existenzen plötzlich die Sehnsucht hereinbricht. Der (zumeist aus dem alten Westdeutschland zugewanderte) Charlottenburger ist bei Thome ein sozusagen philosophisch rundum erschlossenes Wesen. Ein post-bürgerlicher Phänotyp, mit dem sich alles erzählen lässt, was das Leben zugleich so schrecklich schön und vergänglich macht: die Liebe und ihr Versiegen, die Erotik, das Essen und das Altern, Wiederbegegnungen und Abschiede. Geistesgeschichtlich gesehen, gehören Thomes Helden ins Zeitalter der Empfindsamkeit. Respektvoll und vorsichtig umkreisen sich ihre Seelen auf der Suche nach Einklang und Wahlverwandtschaft. Freundschaft ist ihnen heilig, Sex ein angenehmes Nebenprodukt. Hat die fortwährende Liebessuche einen Thome-Film wieder einmal in sentimentale Unordnung gestürzt, dann neigen die Charlottenburger zu tief empfundenen Übersprungshandlungen. Sie verlassen ihre Altbauwohnungen, fahren hinaus aufs Land, ins Brandenburgische, feiern zusammen ein Fest, tanzen und betrinken sich. In Rot und Blau gibt es kaum eine Szene, in der Hannelore Elsner keinen Rotwein trinkt. Sie braucht ihn auch. Schließlich bekommt sie völlig unvermittelt Besuch von ihrer Tochter Ilke (Serpil Turhan), die sie vor 20 Jahren bei ihrem damaligen Ehemann zurückließ. Das erste Wiedersehen von Mutter und Tochter ist wieder ein typischer Thome-Moment. Auf einem Parkplatz am Wannsee parken beide Autos nebeneinander. Doch bevor die beiden aussteigen und sich anblicken können, ist die Kamera auch schon zurückgewichen. Aus der Ferne sehen wir zwei Frauen, winzig klein, im wohl schwierigsten Moment ihres Lebens. Rot und Blau ist voller solcher Begegnungen und Wiederbegegnungen. Eine der schönsten gehört Hanns Zischler und Serpil Turhan. Ohne zu zögern, nimmt der Privatdetektiv Samuel Eisenstein die Tochter seines verstorbenen Freundes in seine Obhut. Sie will durch ihn die Erinnerung an den Vater festhalten, er soll die verschwundene Mutter suchen: „Ich darf doch du sagen.“ Ein Gentleman und das Mädchen in der Großstadt. Knappe Dialoge und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Auch Zischler und Elsner werden sich, von Ilke und dem Schicksal geführt, als Kindheitsfreunde über den Weg laufen. In ihren ungläubigen Gesichtern spiegeln sich die wie im Flug vergangenen Jahrzehnte – und die Erinnerung an einen linkischen kleinen Jungen, der einst ein dickes Mädchen küsste, das vom Baum fiel. Über allem liegt die zarte, aber unmögliche Hoffnung, dass alles einmal wiederkehrt, nichts endgültig, verloren, getrennt, entschwunden ist. Es gibt sogar eine kleine Krimihandlung in Rot und Blau. Aber Thome nutzt sie nur als Vorwand für weitere schöne Kinomomente. Etwa wenn Hanns Zischlers Detektiv in seinem holzgetäfelten Büro Whisky trinkt und über die Rezession im Detektivwesen klagt. Oder auch wenn Elsner und Zischler, ganz konspirativ kichernde Kameraden, nächtens unter einem Baum zwei Tüten mit Geldscheinen vergraben. Mit mysteriösem Ernst wird außerdem eine Wohnung bespitzelt und ein Tresor geknackt. Wieder fügt sich am Ende alles zu sehr viel Wein und einem großen Fest. Wieder ist nichts entwirrt oder aufgelöst. Und wieder beschleicht uns das Gefühl, dass Rudolf Thomes Helden Recht haben, jener unbestimmten Sehnsucht nachzugeben, die sie aus ihren Büros und Wohnungen, ja sogar hinaus aus Charlottenburg zieht. Zwar wissen sie nicht, was sie suchen, aber sie werden stets lieben, was sie finden. Mit dieser Haltung gehört ihnen – von einem Korken, der sich aus der Flasche ziehen bis zu einem fremden Blick, der sich endlich festhalten lässt – tatsächlich die ganze Welt. Katja Nicodemus in DIE ZEIT 11.12.2003 Nr.51
Die Regeln der Sanftmut "Rot und Blau": Zwei Frauen wohnen in einem Film von Rudolf Thome Ein Mann ist im Zug unterwegs, ein heiterer Mann. Er hat so viel Freude am Leben, an diesem Tag, an der Reise, am bloßen Umstand seiner Existenz, dass er sie mit den anderen Fahrgästen teilen will. Deshalb nimmt er mit seiner Digitalkamera auf, wie sie lachen, am Ende auch die reservierteren unter ihnen, und er tauscht E-Mail-Adressen mit ihnen, um den Porträtierten die Fotos zu schicken. Was er noch nicht weiß: Die junge Frau auf dem Sitz gegenüber wird bald zu seiner Familie gehören, ohne dass er einen Anteil daran hätte. Der freundliche Mann wird es bald schwer haben.Die junge Frau heißt Ilke, ihr Vater ist gestorben: nun hat sie sich aufgemacht, um nach ihrer Mutter zu suchen. 20 Jahre hat Ilke die Mutter nicht gesehen; so lange ist es her, dass der türkische Vater sie verließ. Er hat als Teppichhändler ein Vermögen gemacht. Ilke reist mit einem Koffer voller Euros. Bald sieht man sie mit Einkaufstüten und wie sie in einem Autohaus einen teuren Wagen aussucht. Ilkes Mutter ist Architektin und hat Geldprobleme; vor allem aber ist sie innerlich ganz fein, gut und rund und so vollkommen wie ein Kätzlein, das sich auf einer sonnigen Fensterbank rollt. Auch Ilke, die groß und schlank ist, wirkt so fein und in sich gerundet. Die beiden Frauen wohnen ja auch in einem Film von Rudolf Thome. Den neueren Filmen dieses auteur-Regisseurs eignet etwas Kindliches, auf klassische Art Nobles. Thomes Figuren haben ihre Probleme, sie müssen sich auseinander setzen, sie hauen einander sogar einmal - wie hier - ganz doll auf die Nase, doch das sind nur gelegentliche und unwichtige Ausrutscher in einem fast arkadischen Universum, dessen Regeln der Liebe und Sanftmut man akzeptiert. So kommt es denn auch, dass "Rot und Blau" (der letzte Teil einer Trilogie) auf ganz eigene, verhalten komische Weise von einer Mutter-Tochter-Beziehung erzählt, die man sich sehr schwierig vorstellt, denn was sollen zwei Frauen schon Lustiges miteinander anfangen, die beide daran leiden, verlassen worden zu sein. Ilke wuchs hier und da auf; Barbara hat längst eine neue Familie, zwei Kinder und den Digitalfotografen aus dem Zug zum Ehemann. Die Ehe hat sich abgeschliffen; gleichzeitig ist die berufliche Existenz unsicher. Um Barbaras Lebenskrise in Ilkes Erwachsenwerden zu spiegeln, bemüht Rudolf Thome einen freundlichen Detektiv. Er bringt Barbara Bärenklau (Hannelore Elsner) und Ilke (Serpil Turhan) am Wannsee zusammen, wo sie dann durch den Wald spazieren, an einem schönen Sommertag - Barbara, Ilkes Mutter, in hochhackigen spitzen Schuhen, und schon bricht sie sich den Fuß und muss von Ilke gestützt werden. "Vielleicht ist das die Strafe Gottes. Weil du dich nie um mich gekümmert hast", sagt Ilke - ganz verwundert, schwebend, traumverloren über das seltsame Zeug, das sie da redet. Hannelore Elsner spielt die Barbara auf erwartbare Art erstaunlich - fragil und struppig wie ein aus dem Nest gefallener Vogel; ihr Alter stellt sie aus und ist dabei erbarmungslos mit sich selbst. Sie steckt voller weicher sexueller Energie und ist in all dem sehr schön. Die Elsner ist womöglich die einzige Schauspielerin, die etwas davon versteht, wie man im Film rauchen muss, um von sich zu erzählen. Serpil Turhan (aus Thomas Arslans "Ein schöner Tag") als Ilke kann sehr schön gehen, schreiten, schauen und singen; das rechte Sprechen, als Teil des Schauspielerhandwerk, muss sie erst lernen. Es ist wichtig, wie ein Regisseur seine Figuren behandelt - ob er das mit Achtung tut oder aber mit Herablassung. Thome behandelt seine Figuren mit Zartgefühl: wenn er ihre Unsicherheit und Verzweiflung, ihre Fehler und Versäumnisse zeigt, macht er sich gleichzeitig Sorgen um ihre Verletzlichkeit und hat Nachsicht. Daher gibt er ihnen außerhalb ihrer heiklen Beziehungen zueinander eine höhere Geborgenheit, die weniger religiös als räumlich und panhumanistisch ist: Die Wohnungen sind klar strukturiert, die Natur ist ein klassizistisches Paradies. All die Figuren aus "Rot und Blau" müssen einem ganz sinnhaft so vorkommen, als seien sie aus Goethes "Wilhelm Meister" entlehnt - oder von dem DDR-Dramatiker Peter Hacks erfunden. "Mama" kann Ilke nicht zu Barbara sagen, obwohl die sich nichts sehnlicher zu ihrem 50. Geburtstag wünscht. So einfach ist es nicht mit der Heilung. Aber Ilke singt ein Lied für und mit Barbara. Und Barbaras freundlicher Gatte hat es schwer, weil er zunächst ausgeschlossen bleibt - von der Vergangenheit der beiden Frauen. Doch am Ende kann man miteinander lachen. "Einige Tage später" heißt es immer wieder in den Zwischentiteln, die diesen behutsamen Film gliedern. Es geht immer weiter, es wird vielleicht noch gut. Das ist nicht die schlechteste Botschaft. Anke Westphal in Berliner Zeitung, 12.12.03
ROT UND BLAU Rudolf Thomes "Rot und Blau“ erzählt vom Älterwerden
und vom Selbstfindungsprozess einer Frau, der schmerzhaft und glücksversprechend
zugleich ist. Ganz leicht ist diese ungewöhnliche Mutter-Tochter-Geschichte,
in der viel miteinander getanzt und sich beim Leben zugesehen wird. Der
Film lässt viel Raum zwischen den poetischen Bildern, in denen es
sich der interessierte Zuschauer bequem machen kann.
Rot und Blau
Leicht wie der Wind Rudolf Thome malt in Rot und Blau einen Film noir bunt an. Mit Hannelore Elsner, Serpil Turhan und Hanns Zischler im roten Ferrari Wieder beschert uns Rudolf Thome ein wundersames Unding von Film, eines seiner prätentiös unprätentiösen Machwerke. Wieder gibt es diese manierierten Moment, in denen mit Westberliner Prosecco-Attitude Beziehungsprobleme gewälzt werden. Etwa wenn Karl Kranzkowski die Abwesenheit seiner Filmgattin mit der Bemerkung kommentiert: "Sie muß mal wieder Ferien vom Ich machen."Es mag lachhaft sein, dass Hannelore Elsner in diesem Film ihren 50. Geburtstag feiert. Und warum muss sie den unmöglichen Namen Barbara Bärenklau tragen und so furchtbar affektiert spielen? Andererseits hat sie auch wieder etwas furchtbar Rührendes. In den meisten ihrer Szenen steht eine Flasche Rotwein sorgfältig platziert auf einem Tisch. Auch wenn sie immer mitten im Bild ist, scheint sich Hannelore Elsner unbeobachtet zu fühlen, wenn sie sich einen kräftigen Schluck genehmigt. Und in dem anschließenden Seufzer steckt alles drin - die Melancholie einer Frau, die mit ihrem Alter zu kämpfen hat. Die Erschöpfung einer Architektin, die ihren Beruf liebt, ihre Kinder und irgendwie auch ihren Mann und die sich dennoch fragt, ob alles richtig gelaufen ist. Wenn Thome nicht auf Worte zurückgreift, statdessen Stimmungen inszeniert, dann sind seine Filme mit sich eins. Dann reicht der Anblick von Hannelore Elsner, die sich ins Auto setzt, losfährt, gleichzeitig lachend und weinend. Barabara Bärenklau ist auf dem Weg zu ihrer Datscha, um die Vergangenheit zu verbrennen. Mit Gummistiefeln, schickem Rock und natürlich dem Rotweinglas in der Hand wirft sie Briefe, Lampenschirme und alte Stühle ins Feuer. Doch die Schatten der Vergangenheit lassen sich nicht vertreiben, in "Rot und Blau" werden sie sich allerdings zu einem wahren Phönix aus der Asche verdichten. Ein fremdes, junges Mädchen kommt nach Berlin. Mit einem roten und einem blauen Koffer steigt sie aus dem ICE. In einem der Koffer ist ein anderer voller Geld verborgen, das ihr der Vater, ein türkischer Teppichhändler, vermacht hat. Aus dem Koffer leben, ein improvisiertes Dasein führen, mit einem silbernen Cabrio durch Berlin fahren und auf der Suche sein. Ilke (Serpil Turhan) sucht ihre Mutter, die sie nie kennengelernt hat. In Hanns Zischler findet sie einen großartig, hemdsärmeligen Privatdetektiv, der kurios changierende Jacketts trägt und seinem zwielichtigen Marlowe-Charakter fürsorglich onkelhafte Züge abgewinnt. Die Detektivspiele des Film noirs waren auch immer Exkursionen in die menschliche Seele, kriminalistische Versuchsanordnungen in Sachen Liebe und Gefühl. In "Rot und Blau" übernimmt der Regisseur den Part des Detektivs. Thome ist ungemein neugierig auf die Reaktionen seiner Protagonisten, aber um nicht entdeckt zu werden, muss er sie aus der Distanz beobachten. Deshalb ist sein Film letztlich sehr diskret und zurückhaltend. Wenn sich Mutter und Tochter das erste Mal treffen, dann sieht man sie lange Zeit aus weiter Ferne auf einem Steg am See sitzen. Wenn Ilke allein zurück zum Auto geht, beginnt es bereits zu dämmern. Was in der Zwischenzeit gesagt wurde, bleibt allein ihre Sache. Bei allem Ernst nimmt sich dieser Film auch Zeit für vergnügliche Spielereien. Hanns Zischler fährt mit einem roten Ferrari durchs Brandenburgische, ein Bruch wird verübt, Kinnhaken werden verteilt, und Serpil Turhan singt türkische Lieder. In seiner Leichtigkeit erinnert "Rot und Blau" an einen lauen Sommerabend, wenn eine angenehme Brise auch den trübsten Gedanken vertreibt. Anke Leweke in TIP 25/03
Selbstfindungsfilm
Jeden Tag Sommer "Rot und Blau": ein Kinomärchen von Rudolf Thome Rudolf Thomes Welt ist eine Märchenwelt. Sie besteht aus verfallenen Landhäusern, wo Frauen sich an uralte Bäume lehnen und bitten "Erzähl mir vom Leben". Oder aus Dachgeschosswohnungen im Himmel über Berlin, wo der Vater mit dem Sohn Schach spielt und immer verliert. Ein Steg am See darf nicht fehlen, und schöne Frauen jeden Alters und beste Freundinnen, die nebeneinander im Ehebett schlafen, und am Morgen maulen: "Du riechst schlecht aus dem Mund." In Thomes Welt ist immer Sommer.Bei Thome gibt es Traumaltbauwohnungen für 200 Euro, und Freunde, die den Betrag plus Kaution sofort cash auf den Tisch legen. Überhaupt: Man bezahlt bar, auch wenn es 49.000 Euro für ein silbernes Cabrio sind, und Mädchen reisen mit einem Koffer voller Geld. Man schenkt sich Pfirsichbäume aus italienischen Gärten, die schon die Fahrt von Berlin in die Uckermark kaum überleben, oder Wuschteppiche oder auch einmal einen roten Ferrari, nur einfach so. Und Hannelore Elsner muss die Hälfte des Films mit einem Gipsfuß herumlaufen. Thome nennt es "die Strafe Gottes". In "Rot und Blau", dem ersten einer Trilogie "Zeitreisen", passiert, was nicht möglich ist: Da trifft ein Computervertreter ein türkisches Mädchen im Zug, und nachher stellt sich heraus, dass es seine Stieftochter ist. Und seine Ehefrau, die vor Frust und Einsamkeit längst den Rotwein aus der Flasche trinkt, begegnet ihrem Jugendfreund wieder und erblüht erneut. Und findet nach zwanzig Jahren ihre Tochter wieder, und die schon aufgegebene Familie wächst neu zusammen. Lauter höchst unwahrscheinliche Zufälle. Aber im Märchen ist das erlaubt. "Ihr kennt euch?" ist eine häufige Frage in "Rot und Blau". In Thomes Welt kennen sich alle. Auch der Zuschauer kennt viele: Adriana Altaras zum Beispiel, die als italienisch-jüdisch-berlinische Busenfreundin schön exaltiert sich selber spielt. Oder Hanns Zischler, diesmal glatzköpfig, als zwielichtiger Detektiv, dessen Auftrag man nie erfährt. Andere sind neu: Die schmale Serpil Turhan, bekannt aus Thomas Arslans Filmen. Und Hannelore Elsner natürlich, die seit der "Unberührbaren" und "Mein letzter Film" immer reifer, schöner, aber - leider - auch launischer geworden ist. Für "Rot und Blau" spielt sie ein verwöhntes Kind, rücksichtslos, kapriziös. Am Ende fordert sie, die eine verkappte Alkoholikerin spielen soll, ihren Ehemann auf, sich ihr zu Füßen zu legen und zu bekennen: "Ich werde nie wieder zu viel Alkohol trinken." Thome lässt es ihr durchgehen. Wir auch. Christina Tilmann in "Der Tagesspiegel" 11.12.03
Berlin ist eine Insel: Rudolf Thomes "Rot und Blau" Andreas Kilb in FAZ, 11.12.03
Alle Tragödien starten im Gestern Ein Film von den pastellfarbenen Nöten der Reichen. In Rudolf Thomes Reigen "Rot und Blau" ist Hannelore Elsner der große Trumpf Einen Moment ist man erschrocken. Ja er hat! Wow! Action! Der Gegner ist mit einem raschelnden Geräusch aus dem Bild gesunken. Gregor hat Samuel niedergestreckt, den Jugendfreund seiner Frau, dessen Pulloverfarben von damals dem Film den Titel "Rot und Blau" geben. Würde der Eifersüchtige den Nebenbuhler jetzt erschlagen, käme richtig Leben in den Film über die Schönen und Reichen. Und ein Knittercoat wie Derrick oder Columbo würde die Ermittlungen leiten. Ein Villen-Inspektor.Aber Gregor hält inne, muss hinterher nur auf den Boden vor Barbara. "Ich werde nie wieder zu viel Alkohol trinken. Alkohol macht aggresiv." Das sagt er dreimal. Dann lacht Barbara. Und schon schnurrt der Abspann. Ist das eine Versöhnung? Oder der Anfang vom Abschied? Das läßt sich bei der Helligkeit dieses neuen Films von Rudolf Thome nicht feststellen. Das Dunkelste ist der Rotwein in den Gläsern der Schönen und Reichen. Vielleicht noch der (unsichtbare) Abgrund zwischen den Ehebetthälften. Wie tief der ist, bleibt unklar. Erzähl mir was vom Leben, mir geht's im Moment nicht gut", seufzt Barbara ihren Lieblingsbaum an. Sie ist losgefahren, vor der Datsche alte Dinge zu verbrennen, starrt traurig in die Flammen. Hannelore Elsner ist Schönheit in Reise mit Bitternis in den Mundwinkeln. Dieser ganz wundervollen Wechselbadenden der Gefühle zuliebe beginnen wir die mediterrane Leichtigkeit des luxuriösen Seins in Grunewald zu mögen. Musik hat man in diesen Film tonweise hineingetupft, das Klavier plinkt, die Gitarre maunzt. Tragödien im Gestern "Zeitreisen" hat Thome den Auftakt einer Trilogie untertitelt. Barbara ist die Reisende in die Vergangenheit, sie wird Verdrängung verdrängen, den alten Freund wiedertreffen, der als Detektiv für ihre Tochter Ilke aus erster Ehe arbeitet, die sie auch 20 Jahre nicht gesehen hat. Unerwartete Begegnungen gibt es auch sonst, wie schicksalshaft sie werden, lässt der Regisseur offen. Die Elsner ist stark und fragil zugleich und hat ein Gesicht, über das in Sekundenschnelle vielerlei huscht. Ein glaubwürdiges Gesicht. Nicht immer glaubt man ihr indes die Worte: "Wenn mich Geld je interessiert hätte", sagt sie etwa, "wäre ich ihm (ihrem ersten Mann) nachgelaufen, hätte mich auf die Knie geworfen, damit er mich wieder nimmt." Und dann wünscht sie sich von ihrem Rotblau nur einen Ferrari. Und der bringt zum 50. Geburtstag einen vorbei. Tolle Autos und tolle Häuser sind halt schon wichtig. Geld interessiert Barabara blpß nicht, weil sie nicht mehr merkt, dass sie wahnsinnig viel davon hat. Alle Tragödien liegen im Gestern, die aktuellen Konflikte scheinen lösbar, der Film fließt licht, klar und heiter wie ein Maibach durch uns hindurch. Man fragt sich zwar, wie es unter der Oberfläche einer Frau gestürmt haben mag all die Jahre, nachdem ihr Kind weg war. Aber man sieht nur die Etappen emotionaler Annäherung, wie sie und Ilke lernen, sich halbwegs wie Familie zu fühlen. Thomes Filme ziehen keine Massen, schweben leicht neben dem mal kriselnden, mal sich beklatschenden deutschen Großkino. Er sagt uns hier, dass die Schönen und Reichen neben einem Audi TT auch Seele und Nöte haben. Howard Hawks und Budd Boetticher sind seine Regiehelden. Hinterher hat man das Bedürfnis nach einem Glas Rotwein. Matthias Halbig in Neue Presse, Hannover 9.1.2004
Präzise Komödie des Missverstehens
Barbara (Hannelore Elsner) soll zum ersten Mal ihrer Tochter begegnen,
die sie vor Jahren beim Vater zurückließ. Heute ist Ilke erwachsen,
will nun mit der Vergangenheit reinen Tisch machen, die Mutter finden.
Am Anfang hat man Ilke im Zug gesehen, auf der Fahrt nach Berlin. Dort
begegnet sie einem Mann, der sich später als Barbaras Gatte entpuppt. Vom Baum gefallen, Fuß verstaucht, Fehler gemacht, Glück gehabt,
Liebe genossen… Barbara (Hannelore Elsner) witd gerade 50 und erhält
unerwartet Besuch von ihrer Tochter Ilke (Serpil Turhan), die bei der
Trennung vor 20 Jahren zu ihrem türkischen Vater zog. Zuvor muss
jedoch ein Privatdetektiv (Hanns Zischler) der lebensklugen Ilke erst
einmal helfen, ihre Mutter zu finden. Der erweist sich als Barbaras Jugendfreund
und allererste Liebe, der sich damals um sie sorgte, als sie vom Baum
gefallen war - und einen rot-blau gestreiften Pullover trug, an den sie
sich noch vage erinnern kann. Rudolf Thomes tragikomischer, wunderbar
leichter Wiedersehensfilm "Rot und Blau" spielt in Berlin, am
Wannsee, irgendwo draußen im märkischen Sand in einem schönen
Wochenend-Chalet, wohin sich Barbara immer dann zurückzieht, wenn
der Lebenskriselei zum 50sten Einhalt zu bieten ist. Wenn ungute Erinnerungen,
Trauer, ein schlechtes gewissen, vielleicht, mit ein paar Flaschen Rotwein,
dem Trost der besten Freundin und etwas pyrotechnischem Geschick in leicht
dramatischem Rauch aufgelöst werden könnten. Thome at his best,
Paraderolle für die Elsner, ein deutsches Hinschau- und Zuhör-Movie,
verspielt, amüsant, überaus ernst, ganz ohne erdenschwere -
mit Gesang, Rührung, Pathos und Familienfesten.
Alle bleiben auf dem Teppich In "Rot und Blau" spinnt der fleißige Rudolf Thome seine sanften Beziehungsgeschichten fort Seit vierzig Jahren dreht Rudolf Thome sanfte, etwas verschlungene Filme über das Paarverhalten verunsicherter Großstädter. Das war manchmal unfreiwillig komisch, denn die Dialoge raschelten, die Schauspieler hielten sich steif an ihr Konzept, die Banalitäten des Alltags wurden eins zu eins vor der Kamera abgespult. Jetzt in der späteren Phase seines Schaffens, geht der inzwischen 65-jährige Thome sichtlich lockerer mit seinem immer gleichen Material um. Lose verknüpfte Szenen und ein gedämpft netter Umgangston verhindern dramatische Auswüchse; die Erwachsenen sehen zu, dass sie ihre Seelennöte in Schach halten und die Jungen warten sehnlichst, dass ihnen auch mal die Liebe über den Weg läuft. So hat das Personal von "Rot und Blau" zumindest äußerlich nur mehr wenig zu kämpfen. Die Zufälle des Lebens, von Thome lustvoll aneinandergereiht, sind ihnen eigentlich suspekt. An ein Schicksal mögen sie nicht glauben, folglich bleibt Barbara Bärenklau, etablierte Berliner Architektin, die Spucke weg, als ihre Tochter nach einem Unfall zu ihr sagt: "Das ist die Strafe Gottes, weil du dich zwanzig Jahre lang nicht um mich gekümmert hast." Ilke kommt aus der Türkei, ihr verstorbener Vater war ein begüterter Teppichhändler, er hatte Mutter Barbara vor langem verlassen und nahm sein Kind mit. Das sich anbahnende familiäre Durcheinander, Wiederbegegnung und Annäherung an neue Verhältnisse, zeigt Thome aus beruhigender Entfernung. Leidenschaft ist ausgeträumt, man hat sich eingerichtet in den Annehmlichkeiten einer erfolgreichen Mittelklasse, die zum Weekend auf eine idyllische Datscha fährt, zu viel Wein trinkt und rote Ferraris als Geburtstagsgeschenk in nüchternem Zustand für übertrieben hält. Inzwischen sind es die kleinen, leicht weggewischten Pointen, die bei Thome die abgeklärte Stimmung aufmuntern: Wie Mama Barbara - eben doch durch Zufall - den alten Schulfreund Samuel trifft, wie Ilke ganz en passant heimisch wird bei den fremden Eltern, wie ein ominöser Koffer voller Geld im Garten der Bärenklaus ein sicheres Versteck findet. Am Schluss feiern alle, ähnlich wie in Thomes "Paradiso - Sieben Tage mit sieben Frauen", Barbaras Wiegenfest an einem herrlichen Sommertag auf dem Land, es wird ein bisschen gesungen und viel geplaudert, dennoch ist ein Eifersuchtsausbruch total lächerlich, auf Grund labiler Konstellationen unvermeidbar. Dich die Dame des Hauses, von Hannelore Elsner hoch sensibel porträtiert, behält die Kontrolle. Die Gäste sollen bitteschön auf dem Orientteppich bleiben, der auf der Wiese ausgerollt wie ein Erinnerungsstück aus ferner Zeit aussieht. Im Finale zeigt ein Bild der erweiterten Familie, dass in diesen Milieus keine großen Bewegungen mehr stattfinden, selbst wenn unverhofft ein verlorenes Kind aus der Türkei auftaucht. Berlin nimmt sie alle problemlos und ohne Ressentiments auf. Inge Rauh in Nürnberger Nachrichten, 16.1.04
Die Zufälle des Lebens Hannelore Elsners erster Film mit Rudolf Thome: "Rot und Blau" Alltagsmärchen. Sie weint, lächelt dabei. Sie umarmt einen Baum, sucht ihre Wurzeln. Sie wirft Dinge aus ihrem Leben ins Feuer, möchte ihre Vergangenheit verbrennen. Die verschuldete Berliner Architektin Barbara Bärenklau (Hannelore Elsner) versucht, mit symbolischen Handlungen während eines Wochenendes in ihrer Datscha vor sich selbst und für kurze Zeit auch vor ihrem Mann, von dem sie nicht mehr weiß, ob sie ihn liebt, zu fliehen. Kurz darauf holt sie ihre Vergangenheit doch ein. Ihre Tochter Ilke (Serpil Turhan) taucht auf. 20 Jahre haben sich die beiden nicht gesehen. Barbaras Mann aus erster Ehe, ein türkischer Teppichhändler, hat sie mit der damals Dreijährigen verlassen.Rudolf Thome erzählt ein Alltagsmärchen. Dennoch erscheint es wie aus dem leben gegriffen. Trotz aller Zufälle. Denn Tochter Ilke trifft bereits im Zug auf Barbaras Mann Gregor, der von ihr sogar ein Foto macht. Als Ilke in Berlin ankommt, hilft ihr ein Freund ihres Vaters, der Privatdetektiv Samuel (Hanns Zischler), der sich später als Jugendliebe von Barbara herausstellt. Und dann bringt die Tochter viel Geld mit nach Berlin - das Erbe ihres verstorbenen Vaters. Thomes ruhige Erzählweise lässt den Figuren viel Raum. Sie agieren, als gäbe es keine festen Vorgaben, als wäre alles möglich, und die Kamera hält fest, was sie sich gerade ausgedacht haben: bewegende Momente wie das erste Zusammentreffen zwischen Mutter und Tochter und auch Kleinigkeiten und Einzelheiten - als wollte Thome etwas dokumentieren. Star des Films ist Hannelore Elsner. Sie macht aus der Barbara ein Wesen voller Widersprüche: Mal ist sie melancholisch, mal frech, mal verunsichert, mal ausgelassen. Es ist die erste Zusammenarbeit zwischen Thome und Elsner, und "Rot und Blau" ist der erste Teil der Trilogie "Zeitreisen". Auch in den beiden folgenden Teilen spielt Hannelore Elsner mit. Christine Jeske in WÜS, Würzburg 23. 1. 04
Sommerlicher Stadtwestern "Rot und Blau" von Rudolf Thome
Mit einem Koffer voller Geld kommt die junge Ilke (Serpil Turhan) nach
Berlin. Sie ist auf der Suche nach ihrer Mutter. Mit Hildfe des Detektivs
Samuel (Hanns Zischler) hat sie auch rasch Erfolg und findet Barbara (Hannelore
Elsner). Die ist verheiratet, hat zwei weitere Kinder, wird demnächst
fünfzig, und ihr Architekturbüro hat schon bessere Zeiten gesehen.
Bei der ersten Begegnung mit der Tochter rutscht Barbara aus und bricht
sich das Bein. Ilke bezeichnet das nur halb ironisch als „Strafe
Gottes“, weil ihre Mutter sich nicht um sie gekümmert habe.
Zunächst scheint die Integration der verlorenen Tochter in Barbaras
Familie dennoch problemlos zu funktionieren, doch einige Zufälle
zerstören deren ohnehin labiles Gleichgewicht.
|