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Poetik des Ungeplanten

Es hätte genauso gut etwas anderes passieren können: in "Rot und Blau" spielt Rudolf Thome mit den Eventualitäten von Lebensläufen

Wer Antworten sucht, wird sich verlieren in den Filmen von Rudolf Thome. Es gibt keine Lösungen und schon gar keine Auflösung in seinem Kosmos. Es gibt nicht einmal Fragen im klassischen Sinne, dafür ist alles viel zu klar. Thome bietet Eventualitäten an. Er fächert das Leben auf, in Momente, in denen etwas oder auch nichts geschieht. Aber da bleiben immer noch alternative Möglichkeiten: Es hätte genauso gut etwas ganz anderes passieren können. Und es ist dieser Konjunktiv, in dem Thome erzählt und in dem die Welt ihr Innerstes offenbart.

Barbara und Ilke haben sich seit etwa 20 Jahren nicht gesehen - seit Ilkes Vater, ein überaus erfolgreicher türkischer Teppichhändler, Barbara verlassen hat. Nun treffen sich Mutter und Tochter auf einem verlassenen Parkplatz am Wannsee zum ersten Mal wieder. Die Befangenheit der beiden ist groß. Da sind natürlich die Schuldgefühle der Mutter und der Zorn der Tochter, doch auf Schuldgefühle kann man keinen neuen Anfang gründen. Also bleiben sie vorerst unausgesprochen. Um der erdrückenden Nervosität und Unsicherheit zu entfliehen, gehen sie zusammen vom Parkplatz zum See. Das Gelände ist nicht für Barbaras hohe Absätze geeignet, sie rutscht aus und verletzt sich am Fuß. Ein wenig spielerisch, aber eben nicht nur im Scherz bemerkt Ilke daraufhin: "Vielleicht ist das die Strafe Gottes, weil du dich nicht um mich gekümmert hast."

Die Kamera als Registriermaschine

Der Unfall als Strafe Gottes, das ist ein absurder, eigentlich ganz unzeitgemäßer Einfall und zugleich Ausdruck eines tiefen Wunsches. Natürlich wäre es beruhigend, wenn das Sprichwort wahr wäre und Gott kleine Sünden tatsächlich sofort bestrafen würde. Aber: Warum sollte Barbaras Stolpern mehr als ein Stolpern sein? Ihre Verletzung ist die Folge eines Fehltritts, sie hätte aber auch an die richtige Stelle treten können, stattdessen wäre vielleicht Ilke ausgerutscht, und niemand hätte von Gott und von Strafe gesprochen.

Rudolf Thome bemüht sich, während dieser ganzen Episode einen gewissen Abstand zu beiden Figuren zu bewahren. Nur wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, geht er nah an sie heran. Sonst herrscht die Totale. Er drängt sich seinen Figuren nicht auf. Er gibt ihnen den Raum, den sie in einer solch schwierigen Situation für sich brauchen. Zugleich lässt Thome dem Raum selbst sein Recht. Der Parkplatz, der Steg und der See, das Dickicht am Ufer, alles hat seine eigene Realität. Diese Orte sind mehr als nur eine Bühne, auf der ein kleines Drama des Lebens aufgeführt wird. Sie selbst spielen mit und drücken dem Schauspiel ihren Stempel auf. Schließlich ist es der unwegsame Boden des Dickichts, der Barbara zum Stolpern bringt.

"Der nicht sichtbare Mann hinter der Kamera ist nicht der Autor-Gott, der alles schon immer weiß. Er ist wie Warhol die Registriermaschine, die gleichermaßen von den alten Unterscheidungen fiktiv und dokumentarisch ein Auge hat für Minimales, Ungeplantes, das früher aus dem Rahmen und damit unter den Tisch fiel:" Das hat Frieda Grafe vor einem Vierteljahrhundert über einen ganz anderen Film von Rudolf Thome geschrieben, und es gilt immer noch. Thome ist weniger ein Erzähler als vielmehr ein Zeuge. Er lässt sich von seinem Auge für das Nebensächliche leiten und nicht von den Mechanismen des Erzählkinos und seinen Konventionen.

So herrscht denn auch in "Rot und Blau" ein e völlig eigene Logik. Jenseits des Diktats der Wahrscheinlichkeit kann sich in diesem der Vergangenheit gewidmeten ersten Teil von Thomes neuer Zeitreisen-Trilogie alles perfekt zusammenfügen. Der Blick für das ansonsten Unbemerkte eröffnet eine neue Sicht auf die Welt, das Universum. Im Kleinen kann er größere Zusammenhänge entdecken, eine Gerechtigkeit, die vielleicht nicht ausgleichend, gewiss aber poetisch ist.

Zu Beginn will die von Hannelore Elsner gespielte Barbara Bärenklau ihre Vergangenheit verbrennen. Ihr fünfzigster Geburtstag steht kurz bevor, und die Bilanz ihres bisherigen Lebens ist alles andere als positiv. Da sind die Erinnerungen in einem roten und blauen Pullover, ihre erste Liebe. Er hat ihr einmal geholfen, doch dann ist er spurlos aus Barbaras Leben verschwunden. Ihre Ehe mit dem Computerfachmann Gregor ist kaum mehr als Routine. Ihr Architekturbüro steckt in einer Krise. Und dann lastet natürlich noch das Wissen um die verlorene Tochter Ilke (Serpil Turhan) wie ein schwerer Schatten auf ihr, über den sie nicht einmal sprechen kann.

Am Ende wird Barbara neben Ilke auch noch Samuel (Hanns Zischler), den Jungen in Rot und Blau, wiedergefunden haben. Die Vergangenheit ist nun nichts mehr, was auf den Scheiterhaufen eines verfehlten Lebens gehören würde, sie ist vielmehr Teil einer Zukunft, die unendlich viel zu versprechen scheint. Dazwischen liegen viele alltägliche und einige wahrhaft außergewöhnliche Momente, deren Summe nichts weniger als das Leben ist.

Rudolf Thome verführt einen mit seinem unaufgeregten Stil regelrecht dazu, all diese Augenblicke zu beschreiben. Man möchte sie mit anderen teilen und ihren natürlichen Zauber immer wieder von neuem heraufbeschwören. Doch - und das macht Thome einem viel deutlicher bewusst als jeder vermeintlich alles wissende Filmemacher-Gott - jede Beschreibung und jede Nacherzählung kann nur Interpretation sein. Sie suggeriert Geschlossenheit, wo doch eigentlich Offenheit das entscheidende Prinzip ist. Man kann natürlich von "Rot und Blau" erzählen, aber das ist eine Aneignung, für die man einen hohen Preis bezahlt: den aller anderen im Film präsentierten Möglichkeiten. Um dem gerecht zu werden, muss man "Rot und Blau" nur sehen, möglichst immer und immer wieder.

Sacha Westphal in Frankfurter Rundschau, 15.1.2004

 

Das Lied der Bäume

„Rot und Blau“ – Rudolf Thome begibt sich auf eine erste filmische Zeitreise

  Einen Baum umarmen . . . Sich nicht nur an ihn anlehnen, verträumt, in die Sonne blinzelnd, die durch sein Gezweig dringt, sich nicht nur anschmiegen an seinen Stamm, schutz- und haltsuchend, seiner Stärke vertrauend. Nein, einen Baum in seine Arme schließen und fest an sich drücken und hoffen, dass man durch diese Umarmung seine eigenen Wurzeln wieder spüren, eine Verbindung zu seiner Jugend wiederfinden könnte und zum Leben, das man überhaupt nicht mehr im Griff hat. Einen Baum umarmen – Hannelore Elsner tut es zu Beginn dieses Films, in dem Wäldchen um ihre Uckermarksche Datscha. Sie will ihr Leben entrümpeln, aber ein Bruch mit der Vergangenheit bedeutet noch nicht automatisch einen Neuanfang. Das Selbstverständliche ist oft zweifelhaft bei Rudolf Thome, und nur das Unerwartete ist schließlich selbstverständlich. „Zeitreisen“ heißt die kleine Trilogie, die er mit „Rot und Blau“ beginnt, der erste Film ist der Vergangenheit gewidmet. An seinem Ende weiß man, dass man in die Vergangenheit nicht so ohne weiteres zurück kann, aber dass die Vergangenheit, wenn man ein wenig Glück hat, zu dir kommt – ein Rückkopplungseffekt, die Zeit einer Wiederkehr. „Noch bist du jung“, heißt es in einem Lied, das im Film gesungen wird, „noch blüht der Mai, bald ist die schönste Zeit vorbei . . .“

Hannelore Elsner ist Barbara, eine mittelprächtige Architektin, Kettenraucherin, passionierte Rotweintrinkerin (im Freien und im Bett, allein und mit Freunden, gern auch aus der Flasche), hat zwei Kinder und einen liebevollen Lebensgefährten. Ihr fünfzigster Geburtstag steht bevor, das macht Probleme, aber dann kommt ein weiteres dazu, das alle anderen als nebensächlich erscheinen lässt. Eine weitere Tochter ist in der Stadt, Ilke, deren Vater, ein türkischer Teppichhändler, sie verlassen hat, mit dem Mädchen in die Heimat zurückgekehrt ist.

Die Filme, die Rudolf Thome heute macht, handeln von Zufallsbegegnungen und von Wahlverwandtschaften, von Beziehungen, die die Menschen, die sie eingehen, für stabil oder absolut halten und die doch beim kleinsten Anstoß aus dem Gleichgewicht geraten. Sie handeln vor allem davon, wie diese Menschen sich weigern, das, was ihnen widerfährt, als ein Schicksal anzuerkennen. Eine Widerspenstigkeit, die sicher zeitgemäß ist, und die dennoch immer auch jenem Geist verhaftet scheint, in dem Thome vor vierzig Jahren anfing mit seinen Kinogeschichten. Ilke, das Türkenmädchen, das mit einem Koffer voller Geld mit dem IC in Berlin ankommt, ist wie eine Schwester der Sirene Marion – Catherine Deneuve in „La Sirène du Mississippi“ –, und in Barbara, die manche Männer gehen ließ in ihrem Leben, spüren wir eine Verwandte von Catherine, in „Jules et Jim“.

Rudolf Thome sieht keinen Grund, den vergangenen Zeiten nachzutrauern, und den Formen des Kinos, die damals, in den Jahren der Neuen Welle, möglich waren – die Finanzierung war allerdings leichter, die Bereitschaft der Produzenten und der Verleiher, sich auf ein anderes Kino einzulassen. Dass Hannelore Elsner in „Rot und Blau“ spielt, ist ein göttlicher Glücksfall für den Regisseur – auf seine Weise ähnlich inspirierend, wie für Lars von Trier die Mitarbeit von Nicole Kidman es war bei „Dogville“. Elsner hat sich bereit erklärt, auch in den weiteren Teilen der Trilogie mitzumachen, der zweite, „Frau fährt, Mann schläft“, ist bereits abgedreht, der dritte, „Rauchzeichen“, ist in Vorbereitung und wird auf Sardinien gedreht.

Die Starqualität, die Elsner in die Geschichte von Barbara bringt, reißt Löcher in die vertraute Thome-Welt, die Kamera bleibt lange auf ihrem Gesicht, um den Wechsel zu registrieren zwischen ein paar Tränen und einem eruptivem Lachen – die beide Zeichen einer befreienden Ungewissheit sind. Am Ende dieses kleinen Berliner „Le rouge et le bleu“ darf sie schlicht ein Lied singen, wie kleine Mädchen es tun, auf Familienfesten. Die Begegnung von Mutter und Tochter findet am Wannsee statt, auch hier gibt es erst mal eine stumme Umarmung. Aber die Naivität, die oft die Kritiker an Thomes Filmen enerviert, kaschiert nie, wie komplex diese Szenen und Momente sind. Schon deshalb, weil die Kamera mehr sieht, als die Menschen davor ihr zu geben glauben. Sie blicken sich nicht an, die Tochter und die Mutter, wenn sie sich, auf einem Bootssteg hockend, rauchend, von ihren Lebenswegen erzählen. Von der Liebe und der Leere und dem Hass: „Manchmal habe ich mir überlegt, wie ich dich umbringen könnte . . .“ Wenn die Mutter davonfährt, geht das Mädchen noch einmal zum Steg zurück, sie sitzt verloren vor der Weite des Wassers, umhüllt vom Abendlicht.

Es geht um die Angst vor dem Alter in diesem Film, die offenbar ein Problem der Jugend ist. Von einem Birnbaum, der mit seiner Blüte nicht nur als Augenweide dient, handelt das Lied, das Barbara auf ihrem Geburtstagsfest singt: „Bald kommt die Zeit, bald kommt die Zeit, da ist er voller Süßigkeit . . .“ Natürlich ist Thome kein naiver Idylliker, um ihr dubioses Koffergeld unauffällig in Zirkulation zu bringen, zahlt Ilke kleine Beträge regelmäßig auf der Bank ein – „das Geschäft geht gut“, bemerkt der junge Angestellte, und man mag sich nicht ausmalen, was er da für Hintergedanken hat.

Die Ordnung, zu der dieser Film endlich gelangt, kann das Chaos, das er in der Welt findet, nur bannen im Augenblick. „Denn dem Dichter“, schreibt Walter Benjamin in seinem magischen Wahlverwandtschaften-Aufsatz, „ist die Darstellung der Sachgehalte das Rätsel, dessen Lösung er in der Technik zu suchen hat.“ Die Lockerheit, mit der Rudolf Thome nun seine Filme baut, hängt auch damit zusammen, dass man mit den neuen digitalen Techniken und den Laptops die Bilder, die man von den anderen macht, sofort vor Augen hat – und ihnen gleich zeigen kann. Nun können die Blicke wahrhaft zirkulieren.

FRITZ GÖTTLER in Süddeutsche Zeitung, 14. 1. 2004

 

Am Ende viel Wein

Der Charlottenburger an sich: Rudolf Thomes Film „Rot und Blau“

Es gibt Momente, die so zerbrechlich sind, dass es sie nur in einem Film von Rudolf Thome geben kann. Zum Beispiel: Eine Berliner Architektin (Hannelore Elsner) verabschiedet sich von ihren beiden Kindern, um allein zu ihrem Wochenendhäuschen zu fahren. Im Auto kommen ihr plötzlich die Tränen. Durch die Windschutzscheibe sehen wir sie weinen und lächeln. Nichts wird erklärt, und doch ist alles klar, so wie es manchmal ist im Leben.

Noch ein Moment: Vor ihrem Sommerhaus hat Elsners Heldin ein Lagerfeuer aus allerlei Gerümpel und ihrer Vergangenheit entfacht. Es weht ein leichter Sommerwind, Vögel zwitschern, Grillen zirpen, und im Gras zittert die Sonne. Weibliche Selbstfindung, einsame Midlife-Crisis? Plötzlich stapft eine Freundin (Adriana Altaras) über die Wiese und zieht zwei Flaschen Rotwein aus der Handtasche.
Seit vielen Jahren erzählt Rudolf Thome in seinen Filmen von Menschen aus Berlin-Charlottenburg, in deren leicht saturierte Existenzen plötzlich die Sehnsucht hereinbricht. Der (zumeist aus dem alten Westdeutschland zugewanderte) Charlottenburger ist bei Thome ein sozusagen philosophisch rundum erschlossenes Wesen. Ein post-bürgerlicher Phänotyp, mit dem sich alles erzählen lässt, was das Leben zugleich so schrecklich schön und vergänglich macht: die Liebe und ihr Versiegen, die Erotik, das Essen und das Altern, Wiederbegegnungen und Abschiede.

Geistesgeschichtlich gesehen, gehören Thomes Helden ins Zeitalter der Empfindsamkeit. Respektvoll und vorsichtig umkreisen sich ihre Seelen auf der Suche nach Einklang und Wahlverwandtschaft. Freundschaft ist ihnen heilig, Sex ein angenehmes Nebenprodukt. Hat die fortwährende Liebessuche einen Thome-Film wieder einmal in sentimentale Unordnung gestürzt, dann neigen die Charlottenburger zu tief empfundenen Übersprungshandlungen. Sie verlassen ihre Altbauwohnungen, fahren hinaus aufs Land, ins Brandenburgische, feiern zusammen ein Fest, tanzen und betrinken sich.

In Rot und Blau gibt es kaum eine Szene, in der Hannelore Elsner keinen Rotwein trinkt. Sie braucht ihn auch. Schließlich bekommt sie völlig unvermittelt Besuch von ihrer Tochter Ilke (Serpil Turhan), die sie vor 20 Jahren bei ihrem damaligen Ehemann zurückließ. Das erste Wiedersehen von Mutter und Tochter ist wieder ein typischer Thome-Moment. Auf einem Parkplatz am Wannsee parken beide Autos nebeneinander. Doch bevor die beiden aussteigen und sich anblicken können, ist die Kamera auch schon zurückgewichen. Aus der Ferne sehen wir zwei Frauen, winzig klein, im wohl schwierigsten Moment ihres Lebens.

Rot und Blau ist voller solcher Begegnungen und Wiederbegegnungen. Eine der schönsten gehört Hanns Zischler und Serpil Turhan. Ohne zu zögern, nimmt der Privatdetektiv Samuel Eisenstein die Tochter seines verstorbenen Freundes in seine Obhut. Sie will durch ihn die Erinnerung an den Vater festhalten, er soll die verschwundene Mutter suchen: „Ich darf doch du sagen.“ Ein Gentleman und das Mädchen in der Großstadt. Knappe Dialoge und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Auch Zischler und Elsner werden sich, von Ilke und dem Schicksal geführt, als Kindheitsfreunde über den Weg laufen. In ihren ungläubigen Gesichtern spiegeln sich die wie im Flug vergangenen Jahrzehnte – und die Erinnerung an einen linkischen kleinen Jungen, der einst ein dickes Mädchen küsste, das vom Baum fiel. Über allem liegt die zarte, aber unmögliche Hoffnung, dass alles einmal wiederkehrt, nichts endgültig, verloren, getrennt, entschwunden ist.

Es gibt sogar eine kleine Krimihandlung in Rot und Blau. Aber Thome nutzt sie nur als Vorwand für weitere schöne Kinomomente. Etwa wenn Hanns Zischlers Detektiv in seinem holzgetäfelten Büro Whisky trinkt und über die Rezession im Detektivwesen klagt. Oder auch wenn Elsner und Zischler, ganz konspirativ kichernde Kameraden, nächtens unter einem Baum zwei Tüten mit Geldscheinen vergraben. Mit mysteriösem Ernst wird außerdem eine Wohnung bespitzelt und ein Tresor geknackt.
Wieder fügt sich am Ende alles zu sehr viel Wein und einem großen Fest. Wieder ist nichts entwirrt oder aufgelöst. Und wieder beschleicht uns das Gefühl, dass Rudolf Thomes Helden Recht haben, jener unbestimmten Sehnsucht nachzugeben, die sie aus ihren Büros und Wohnungen, ja sogar hinaus aus Charlottenburg zieht. Zwar wissen sie nicht, was sie suchen, aber sie werden stets lieben, was sie finden. Mit dieser Haltung gehört ihnen – von einem Korken, der sich aus der Flasche ziehen bis zu einem fremden Blick, der sich endlich festhalten lässt – tatsächlich die ganze Welt.

Katja Nicodemus in DIE ZEIT 11.12.2003 Nr.51

 


Rot und Blau

Rot und blau gestreift war der Pullover des Jungen, der Barbara als Kind geholfen hat, als sie von einem Baum gefallen war. Diesen Jungen hat sie Jahrzehnte nicht gesehen, aber nie vergessen. Rote und blaue Blumen bringt die sanft selbstbewusste Ilke (Serpil Turhan) mit, als sie Barbara (Hannelore Elsner) und ihre Familie kurz vor deren 50. Geburtstag besucht. Sie weiß, dass es Barbaras Lieblingsfarben sind, weil sie Barbaras nun erwachsene Tochter ist. Aber beide hatten seit 20 Jahren keine Verbindung, Ilke war bei ihrem türkischen Vater geblieben, als dieser sich von Barbara trennte.

Das ist der Ausgangspunkt von Rudolf Thomes neuem Film, der als erster Teil einer Trilogie den Untertitel „Zeitreisen: Die Vergangenheit“ trägt. Der mögliche Realitätsgehalt dieser Grundkonstellation ist durchaus fraglich: Dass eine sozial kompetente Frau wie Barbara wirklich ihre Tochter für 20 Jahre vollständig aus den Augen verliert, fällt etwas schwer zu glauben. Aber es ist eine Qualität des Thome-Kinos, dass man solche Einwände schnell vergisst, wenn man sieht, wie einfühlsam und glaubhaft der Film die schwierige Begegnung von Mutter und Tochter darstellt. Bezeichnenderweise zeigt Thome das erste Treffen der beiden – auf einem Parklatz am Wannsee – in einer Totalen mit respektvollem Abstand. Dabei verstärkt gerade die Distanz die Aufmerksamkeit für die von Schuldgefühlen geprägte Nervosität der einen und die von unterdrücktem Groll begleitete Neugier der anderen.

Thomes Kino scheint immer etwas über dem Boden der Wirklichkeit zu schweben, trotzdem zeigt er seine Personen und ihr Verhalten ungemein konkret, aufmerksam und genau, und beiläufig entsteht ein Sittenbild unseres beginnenden 21. Jahrhunderts. Die Zeit, die er sich für die Beobachtung scheinbarer Nebensächlichkeiten nimmt, für Autofahrten, technische Spielereien und fürs Feuermachen, für Rotweintrinken, Begrüßungsrituale und familiäre Beschäftigungen, für Feste, Lieder und den Nachklang wichtiger Ereignisse, spricht auch von der großen Zuneigung, die er seinen Personen entgegenbringt.

Die Sequenz, wenn Ilke vor dem Treffen Barbara zum ersten Mal anruft, ist mit einfachen Mitteln ganz großes Kino. Die Dramatik dieser Situation löst sich mit Charme auf im Eingreifen des neben Ilke sitzenden Detektivs Samuel (Hanns Zischler), wenn dieser ihr souffliert, wo genau sie sich treffen könnten. Wobei wir dann noch wenig später erfahren, dass eben dieser Samuel Barbaras Jugendfreund mit dem rotblauen Pullover ist ...

Vielleicht hat Rudolf Thome mit diesem Film ein neues Genre entdeckt: die Melo-Komödie. Wenn Barbara mit Pathos „die Vergangenheit“ verbrennen will, heißt es trocken: „Das wird aber kompliziert.“ Nicht dass es an großen Gefühlen fehlen würde, aber sie werden so behutsam behandelt, dass ihnen jede Schwere fehlt. „Vielleicht ist das die Strafe Gottes, weil du dich nicht um mich gekümmert hast“, bemerkt Ilke, als Barbara bei ihrem Treffen stolpert und sich den Fuß umknickt. Was sie ausspricht, ist ein übergroßes Wort für einen banalen Unfall, aber ganz abwegig ist es nicht.

Karl-Heinz Oplustil in epd-Film 1/2004


Die Regeln der Sanftmut

"Rot und Blau": Zwei Frauen wohnen in einem Film von Rudolf Thome

Ein Mann ist im Zug unterwegs, ein heiterer Mann. Er hat so viel Freude am Leben, an diesem Tag, an der Reise, am bloßen Umstand seiner Existenz, dass er sie mit den anderen Fahrgästen teilen will. Deshalb nimmt er mit seiner Digitalkamera auf, wie sie lachen, am Ende auch die reservierteren unter ihnen, und er tauscht E-Mail-Adressen mit ihnen, um den Porträtierten die Fotos zu schicken. Was er noch nicht weiß: Die junge Frau auf dem Sitz gegenüber wird bald zu seiner Familie gehören, ohne dass er einen Anteil daran hätte. Der freundliche Mann wird es bald schwer haben.

Die junge Frau heißt Ilke, ihr Vater ist gestorben: nun hat sie sich aufgemacht, um nach ihrer Mutter zu suchen. 20 Jahre hat Ilke die Mutter nicht gesehen; so lange ist es her, dass der türkische Vater sie verließ. Er hat als Teppichhändler ein Vermögen gemacht. Ilke reist mit einem Koffer voller Euros. Bald sieht man sie mit Einkaufstüten und wie sie in einem Autohaus einen teuren Wagen aussucht. Ilkes Mutter ist Architektin und hat Geldprobleme; vor allem aber ist sie innerlich ganz fein, gut und rund und so vollkommen wie ein Kätzlein, das sich auf einer sonnigen Fensterbank rollt. Auch Ilke, die groß und schlank ist, wirkt so fein und in sich gerundet. Die beiden Frauen wohnen ja auch in einem Film von Rudolf Thome.

Den neueren Filmen dieses auteur-Regisseurs eignet etwas Kindliches, auf klassische Art Nobles. Thomes Figuren haben ihre Probleme, sie müssen sich auseinander setzen, sie hauen einander sogar einmal - wie hier - ganz doll auf die Nase, doch das sind nur gelegentliche und unwichtige Ausrutscher in einem fast arkadischen Universum, dessen Regeln der Liebe und Sanftmut man akzeptiert. So kommt es denn auch, dass "Rot und Blau" (der letzte Teil einer Trilogie) auf ganz eigene, verhalten komische Weise von einer Mutter-Tochter-Beziehung erzählt, die man sich sehr schwierig vorstellt, denn was sollen zwei Frauen schon Lustiges miteinander anfangen, die beide daran leiden, verlassen worden zu sein.
Ilke wuchs hier und da auf; Barbara hat längst eine neue Familie, zwei Kinder und den Digitalfotografen aus dem Zug zum Ehemann. Die Ehe hat sich abgeschliffen; gleichzeitig ist die berufliche Existenz unsicher. Um Barbaras Lebenskrise in Ilkes Erwachsenwerden zu spiegeln, bemüht Rudolf Thome einen freundlichen Detektiv. Er bringt Barbara Bärenklau (Hannelore Elsner) und Ilke (Serpil Turhan) am Wannsee zusammen, wo sie dann durch den Wald spazieren, an einem schönen Sommertag - Barbara, Ilkes Mutter, in hochhackigen spitzen Schuhen, und schon bricht sie sich den Fuß und muss von Ilke gestützt werden. "Vielleicht ist das die Strafe Gottes. Weil du dich nie um mich gekümmert hast", sagt Ilke - ganz verwundert, schwebend, traumverloren über das seltsame Zeug, das sie da redet.

Hannelore Elsner spielt die Barbara auf erwartbare Art erstaunlich - fragil und struppig wie ein aus dem Nest gefallener Vogel; ihr Alter stellt sie aus und ist dabei erbarmungslos mit sich selbst. Sie steckt voller weicher sexueller Energie und ist in all dem sehr schön. Die Elsner ist womöglich die einzige Schauspielerin, die etwas davon versteht, wie man im Film rauchen muss, um von sich zu erzählen. Serpil Turhan (aus Thomas Arslans "Ein schöner Tag") als Ilke kann sehr schön gehen, schreiten, schauen und singen; das rechte Sprechen, als Teil des Schauspielerhandwerk, muss sie erst lernen.

Es ist wichtig, wie ein Regisseur seine Figuren behandelt - ob er das mit Achtung tut oder aber mit Herablassung. Thome behandelt seine Figuren mit Zartgefühl: wenn er ihre Unsicherheit und Verzweiflung, ihre Fehler und Versäumnisse zeigt, macht er sich gleichzeitig Sorgen um ihre Verletzlichkeit und hat Nachsicht. Daher gibt er ihnen außerhalb ihrer heiklen Beziehungen zueinander eine höhere Geborgenheit, die weniger religiös als räumlich und panhumanistisch ist: Die Wohnungen sind klar strukturiert, die Natur ist ein klassizistisches Paradies. All die Figuren aus "Rot und Blau" müssen einem ganz sinnhaft so vorkommen, als seien sie aus Goethes "Wilhelm Meister" entlehnt - oder von dem DDR-Dramatiker Peter Hacks erfunden. "Mama" kann Ilke nicht zu Barbara sagen, obwohl die sich nichts sehnlicher zu ihrem 50. Geburtstag wünscht. So einfach ist es nicht mit der Heilung. Aber Ilke singt ein Lied für und mit Barbara. Und Barbaras freundlicher Gatte hat es schwer, weil er zunächst ausgeschlossen bleibt - von der Vergangenheit der beiden Frauen. Doch am Ende kann man miteinander lachen. "Einige Tage später" heißt es immer wieder in den Zwischentiteln, die diesen behutsamen Film gliedern. Es geht immer weiter, es wird vielleicht noch gut. Das ist nicht die schlechteste Botschaft.

Anke Westphal in Berliner Zeitung, 12.12.03

 


DREI MEISTER - Über neuere Filme von Harun Farocki, Thome, Peter Nestler


Wiederum, wie schon in dem vorangegangenen Thome-Film "Paradiso", machen sich Freunde und Bekannte von Berlin aus auf, um in der freien Natur des Umlands in großem Kreise einen runden Geburtstag zu feiern. Spielte Hanns Zischler damals einen sechzigjährigen Jubilar, so ist es dieses Mal eine Frau (Hannelore Elsner), arrivierte Architektin, die fünfzig wird. Aufs Neue stellt sich die Vergangenheit ein: in der Person Samuel Eisensteins (Hanns Zischler), Jugendfreund der Jubilarin, Detektiv, der ihre Tochter aus erster Ehe (Serpil Turhan) auf die Spur der Mutter gebracht hat. Wie bereits Roger Fritz in Thomes Frühwerk "Fremde Stadt" führt diese Tochter einen Koffer voll Geld mit sich, das ihr der Vater, ein türkischer Teppichhändler, vermacht hat. Man möchte es Rudolf Thome, der über Jahrzehnte hinweg einen so schönen Wunschtraum in Filmen wahr werden lässt, seinerseits wünschen, dass er auch einmal selbst, wie dieses anmutige Geschöpf, das ein silberfarbenes Cabrio fährt, 'aus dem Koffer leben' könne.

Wiederum hat er einen Film gemacht, der als Problemfilm, im gehobenen Mittelstand angesiedelt, zwar Kopfschütteln auslöst, in dem man aber doch immerzu etwas zu sehen und zu hören bekommt, das so komisch, so wahr, so reizend ist, dass man sich auch das Übrige gern gefallen lässt. Noch das Vordergründige, Banale wird von einem seltsamen, ganz persönlichen Klang durchwoben, dessen Mischung aus Zartheit, Nihilismus und Vertrauen ins Hinfälligste den, der sich in den Film versenkt, verzaubert. Selten ist die Stimmung einer Szene, ihre Farbe, so sehr Aktion geworden wie beim späten Thome. In der Idylle tun sich Abgründe auf, die Schatten der Vergangenheit dringen in den Film ein; aber glückvoll verliert er sich immer wieder an die sinnliche Gegenwart, zum Beispiel das im Garten der Datscha entfachte Feuer oder die Stille über dem See während des Gespräches zwischen Mutter und Tochter auf dem Landungssteg.

Thomes Verfahren hat vieles aus der Filmgeschichte absorbiert, nicht zuletzt Ford und Hawks, deren Komplizenschaft mit dem Altern (John Wayne, Robert Mitchum) sich in "Rot und Blau" widerspiegelt. Indessen hat das von daher Überkommene seine Funktion bei Thome durch übertreibende, höchst unbehagliche Spezialisierung gewechselt: die Vertauschung der Geschlechterrollen. Das Matriarchat erscheint als Bedrohung (der Schluss des Films), doch auch als treibende Kraft hin zu einer Lebensform des freundlichen Miteinanders, ohne Faustschläge. Da die Kunst aber heiter ist, trägt Thome das scherzhaft vor, zumal menschlicher Umgang überhaupt nur erträglich ist, wenn man ihn als Spiel begreift.
Peter Nau in Falter (Wien) 41/03

 

ROT UND BLAU

Rudolf Thomes "Rot und Blau“ erzählt vom Älterwerden und vom Selbstfindungsprozess einer Frau, der schmerzhaft und glücksversprechend zugleich ist. Ganz leicht ist diese ungewöhnliche Mutter-Tochter-Geschichte, in der viel miteinander getanzt und sich beim Leben zugesehen wird. Der Film lässt viel Raum zwischen den poetischen Bildern, in denen es sich der interessierte Zuschauer bequem machen kann.

Rudolf Thome dreht unbeirrbar jedes Jahr einen neuen Film. Fernab der sich selbst feiernden pseudoglamourösen Filmszene dreht der Regisseur auf minimaler Budgetbasis und leider weitgehend unbemerkt von einer größeren Öffentlichkeit kontinuierlich aufregende Filme. Sein neuestes Werk "Rot und Blau" ist entspannt wie eh und je, und mit seiner langsamen Erzählweise nimmt sich der Film viel Zeit für die Entwicklung seiner Charaktere und die Schilderung eines sozialen Milieus, in dem Geldsorgen keine große Rolle spielen. Hannelore Elsner spielt hier eine Frau, die kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag steht, nach außen hin die Karrierefrau mimt, aber auf unerbittliche Weise von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Sie möchte Ordnung in ihr Leben bringen, das Verhältnis zu ihrem Ehemann klären und mit ihrer Vergangenheit aufräumen. Als sie gerade dabei ist, sich von ihren ungelebten und naiven Träumen – sie wollte einmal Rennfahrerin werden – zu verabschieden, tritt unvermutet ihre Tochter aus einer frühren Ehe in ihr Leben. Vor zwanzig Jahren lebte Barbara glücklich, mit einem anderen Mann und der gemeinsamen Tochter, Ilke. Bis der Vater, ein erfolgreicher türkischer Teppichhändler, wegging und Ilke mitnahm. Seit damals hat sie nichts mehr über ihre erste Tochter erfahren. Als sie nun wieder auftaucht, hält der Film lange Zeit in der Schwebe, ob die junge Frau ein Engel ist, der eine Botschaft aus einer geleugneten Vergangenheit bringt, oder die Inkarnation jener Wiederkehr des Verdrängten, die mit zerstörerischer Gewalt die Fundamente einer zerbrechlichen Identität einreißt. Nachdem erst einmal ein Loch in die Biographie gerissen ist, tauchen weitere Gestalten aus dem früheren Leben auf: Da ist Samuel, ein Berliner Privatdetektiv, der wie ein Prophet geheimes Wissen ans Licht bringt. In ihm erkennt Barbara ihre längst vergessene Kindheitsliebe wieder, die sie nun dazu zwingt, sich für oder gegen ihr bisheriges Leben zu entscheiden.

Thome hält sich auch in „Rot und Blau“ unbeirrbar an seinem Motto fest, nach dem er Dokumentarfilme über Schauspieler drehe, die Szenen aus einem Drehbuch nachspielen. So abstrakt und ausgedacht Thomes Geschichten auch erscheinen mögen, mit ihrem dokumentarischen Ansatz vermitteln sie stets ein konkretes Bild der Gegenwart. Thome beweist ein Augenmaß für das, was man in zwei Stunden erzählen kann, ohne sich an zu vielen Themen zu verheben. Seine filmische Inszenierungen des Alltags besserverdienender Berliner, seine ausgeprägte Sensibilität für Ensembles verleihen dem Film eine Leichtigkeit, die ein Gegengewicht zum Thema des Älterwerdens, der Schuld gegenüber der eigenen Vergangenheit darstellt. Die Inspiration zu solch poetischen Verdichtungen des Alltäglichen rührt noch von Thomes Anfängen, als er mit Klaus Lemke, Eckart Schmidt und Wim Wenders zur kinobesessenen Gruppe der "Münchener Sensibilisten" zählte. Dennoch konnte „Rot und Blau“ seine Kritiker weder bei der Berlinale noch bei der Filmbewertungsstelle FBW überzeugen. Diese verweigerte dem Film mit der schwachsinnigen Begründung ein Prädikat, er könne sich nicht entscheiden, ob er von der "Selbstfindung einer Frau" oder einer Mutter-Tochter-Beziehung erzählen wolle – als ob das eine nichts mit dem anderen zu tun hätte.

Ralph Winkle in der Pgogrammzeitschift der AG Kino 28.11.03

 

Rot und Blau

Mit einem Koffer voller Geld, der Erbschaft ihres verstorbenen Vaters, kommt Ilke auf der Suche nach ihrer Mutter mit dem Zug nach Berlin. Der Detektiv Samuel Eisenstein soll der jungen Frau dabei helfen. Während sie sich in Berlin einrichtet, wird die Mutter rasch und problemlos gefunden. Barbara Bärenklau ist verheiratet, hat zwei Kinder, wird demnächst 50; ihr Architekturbüro hat schon bessere Zeiten gesehen. Sie ist dabei, Dinge, die sie an ihre Vergangenheit erinnern, zu vernichten, was man für etwas exzentrisch halten mag oder aber für ein Indiz der Krise. Die erste persönliche Begegnung zwischen Mutter und Tochter steht unter keinem guten Stern: Barbara rutscht aus und bricht sich das Bein, was Ilke nur halb ironisch als „Strafe Gottes“ empfindet, weil ihre Mutter sich nicht um sie gekümmert hat. Barbara wird später darauf bestehen, diese Einschätzung zu teilen. Ilkes Integration in Barbaras Familie scheint problemlos zu gelingen, zumal Ilke Barbaras Mann Gregor schon früher begegnet war. Ein weiterer Zufall sorgt für zusätzlichen „Drive“ in der Gefühlslandschaft: Einige Gangster haben Wind von Ilkes Reichtum bekommen, Samuel will sie warnen und trifft auf Barbara, seine verlorene Jugendliebe. War Barbara anfangs bestrebt, ihre Existenz ganz in der Gegenwart zu verorten, sieht sie diese jetzt unvermittelt von der Vergangenheit in den Schatten gestellt. Durch Samuels unverhohlene Avancen und auch durch Barbaras Umgang damit zeigt sich Gregor ebenso verunsichert wie herausgefordert. Beim Geburtstagsfest auf dem Lande kommt es zum entscheidenden „Duell“ um Barbara Bärenklau.

Es ist eine einfache Geschichte mit märchenhaften Zügen, die Rudolf Thome mit „Rot und Blau“, dem ersten Teil seiner neuen Trilogie „Zeitreisen“, erzählt. Man ahnt das, wenn man hört, dass Babara demnächst ihren 50. Geburtstag begehen soll. Gespielt wird Barbara nämlich von Hannelore Elsner, geboren am 26.7.1942 in Burghausen (Oberbayern). Das ist natürlich etwas riskant. „Rot und Blau“ handelt von Barbaras Midlife-Crisis und ihrer daraus erwachsenden Sensibilität für lange schwelende Konflikte. Als Katalysator fungieren Ilke und ihr Koffer voller Geld. Auch wenn häufig von Finanzen die Rede ist, spielt die materielle Grundversorgung der Figuren wie immer bei Thome keine Rolle. Seine Filme sind zwar realitätsgesättigt, aber keineswegs realistisch im konventionellen Sinne. Hierin liegt ein Risiko seiner Filme, aber auch ihre Qualität als Kino in einem beinahe altmodisch-emphatischen Sinne. Fast aufreizend bis zur Selbstparodie wird wieder einmal ein Milieu präsentiert, das wie selbstverständlich über alle Lebensstil-Insignien der Toskana-Fraktion verfügt: architektonisch interessante Wohnungen, teure Autos und der modische Chic des gehobenen Bürgertums. Es gibt tausend Gründe, diesen Film und sein affig-affektiertes Personal nicht zu mögen. Nur verfehlt ein solches Missfallen Thomes Filme im entscheidenden Punkt, denn auch „Rot und Blau“ ist klassisches Kino im Sinne von John Ford oder Howard Hawks. Es braucht nur einige Minuten dieses souveränen, mit größter Selbstverständlichkeit derlei abenteuerliche Behauptungen aufstellenden Erzählens, die sorgfältige, aber unprätentiöse Bildsprache, die liebevolle in der Ausstattung profilierten, titelgebenden Primärfarben, die wiederum Reminiszenz der Vorgeschichte von Barbara und Samuel sind, und nicht zuletzt die ganz zarten Jazz-Klänge von Wolfgang Böhmers Filmmusik, um es sich im Kino bequem zu machen und sich von Thomes (Erzähl-)Kunst verzaubern zu lassen. Mit der Lässigkeit und Meisterschaft des klassischen Erzählkinos und zuweilen auch mit einem Augenzwinkern knüpft Thome seine Fäden: Bereits auf dem Weg nach Berlin begegnet Ilke „zufällig“ Barbaras Ehemann. Gregor ist ein Computerfachmann, der seine Mitreisenden gutgelaunt fotografiert und Bilder der eigenen Familie im Laptop hat. Konstruierter kann eine Exposition kaum sein – abgeklärter und souveräner wohl aber auch nicht. Man ahnt (und wird darin bestätigt), dass man hier jenseits der Erzählung über die Freiheit verfügt, sich in den Räumen umzusehen und den Figuren zuzuhören. In ihrer Textsammlung zur „Nouvelle Vague“ schrieb Frieda Grafe einen Satz, der bestens auf Thomes Filme – zumindest seit „Das Mikroskop“ (fd 26 765) – passt: „Das Fiktive, das wie von selbst sich aus der Realität erhebt, wenn Wünsche ausgestattet mit allen Anzeichen der Wirklichkeit, sich materialisieren, das ist Erfindung, wie sie dem Kino ansteht.“

Wie zeigt man, dass Ilke Gefahr droht, was wiederum Samuel auf den Plan ruft, der bei dieser Gelegenheit Barbara begegnet? Es genügt, einen jungen Mann auf dem Bürgersteig vor Ilkes Wohnung einige Sekunden länger als gewöhnlich im Bild erscheinen zu lassen, um diesen Impuls für den weiteren Handlungsverlauf tragfähig zu gestalten. Diese Freiheit des Zuschauers funktioniert im Einzelfilm, dessen Handlung in zwei von den weiblichen Hauptfiguren vorgetragenen Liedern kulminiert, aber auch im Werkzusammenhang, wo man dem Altern von Thomes „stock company“ (Zischler, Altaras) mit großer Empathie folgt und in Nuancen reichlich Material für eine Ethnografie des Inlands bereit gestellt findet. Nicht zuletzt überzeugt einmal mehr Hannelore Elsner, die sich mit großer Selbstverständlichkeit ins Ensemble fügt und gerade in Bezug aufs Altern eine mutige Arbeit liefert.
Ulrich Kriest in Film-Dienst 25/2003

 

Leicht wie der Wind

Rudolf Thome malt in Rot und Blau einen Film noir bunt an. Mit Hannelore Elsner, Serpil Turhan und Hanns Zischler im roten Ferrari

Wieder beschert uns Rudolf Thome ein wundersames Unding von Film, eines seiner prätentiös unprätentiösen Machwerke. Wieder gibt es diese manierierten Moment, in denen mit Westberliner Prosecco-Attitude Beziehungsprobleme gewälzt werden. Etwa wenn Karl Kranzkowski die Abwesenheit seiner Filmgattin mit der Bemerkung kommentiert: "Sie muß mal wieder Ferien vom Ich machen."
Es mag lachhaft sein, dass Hannelore Elsner in diesem Film ihren 50. Geburtstag feiert. Und warum muss sie den unmöglichen Namen Barbara Bärenklau tragen und so furchtbar affektiert spielen? Andererseits hat sie auch wieder etwas furchtbar Rührendes. In den meisten ihrer Szenen steht eine Flasche Rotwein sorgfältig platziert auf einem Tisch. Auch wenn sie immer mitten im Bild ist, scheint sich Hannelore Elsner unbeobachtet zu fühlen, wenn sie sich einen kräftigen Schluck genehmigt. Und in dem anschließenden Seufzer steckt alles drin - die Melancholie einer Frau, die mit ihrem Alter zu kämpfen hat. Die Erschöpfung einer Architektin, die ihren Beruf liebt, ihre Kinder und irgendwie auch ihren Mann und die sich dennoch fragt, ob alles richtig gelaufen ist.
Wenn Thome nicht auf Worte zurückgreift, statdessen Stimmungen inszeniert, dann sind seine Filme mit sich eins. Dann reicht der Anblick von Hannelore Elsner, die sich ins Auto setzt, losfährt, gleichzeitig lachend und weinend. Barabara Bärenklau ist auf dem Weg zu ihrer Datscha, um die Vergangenheit zu verbrennen. Mit Gummistiefeln, schickem Rock und natürlich dem Rotweinglas in der Hand wirft sie Briefe, Lampenschirme und alte Stühle ins Feuer. Doch die Schatten der Vergangenheit lassen sich nicht vertreiben, in "Rot und Blau" werden sie sich allerdings zu einem wahren Phönix aus der Asche verdichten.
Ein fremdes, junges Mädchen kommt nach Berlin. Mit einem roten und einem blauen Koffer steigt sie aus dem ICE. In einem der Koffer ist ein anderer voller Geld verborgen, das ihr der Vater, ein türkischer Teppichhändler, vermacht hat. Aus dem Koffer leben, ein improvisiertes Dasein führen, mit einem silbernen Cabrio durch Berlin fahren und auf der Suche sein. Ilke (Serpil Turhan) sucht ihre Mutter, die sie nie kennengelernt hat. In Hanns Zischler findet sie einen großartig, hemdsärmeligen Privatdetektiv, der kurios changierende Jacketts trägt und seinem zwielichtigen Marlowe-Charakter fürsorglich onkelhafte Züge abgewinnt.
Die Detektivspiele des Film noirs waren auch immer Exkursionen in die menschliche Seele, kriminalistische Versuchsanordnungen in Sachen Liebe und Gefühl. In "Rot und Blau" übernimmt der Regisseur den Part des Detektivs. Thome ist ungemein neugierig auf die Reaktionen seiner Protagonisten, aber um nicht entdeckt zu werden, muss er sie aus der Distanz beobachten. Deshalb ist sein Film letztlich sehr diskret und zurückhaltend. Wenn sich Mutter und Tochter das erste Mal treffen, dann sieht man sie lange Zeit aus weiter Ferne auf einem Steg am See sitzen. Wenn Ilke allein zurück zum Auto geht, beginnt es bereits zu dämmern. Was in der Zwischenzeit gesagt wurde, bleibt allein ihre Sache.
Bei allem Ernst nimmt sich dieser Film auch Zeit für vergnügliche Spielereien. Hanns Zischler fährt mit einem roten Ferrari durchs Brandenburgische, ein Bruch wird verübt, Kinnhaken werden verteilt, und Serpil Turhan singt türkische Lieder. In seiner Leichtigkeit erinnert "Rot und Blau" an einen lauen Sommerabend, wenn eine angenehme Brise auch den trübsten Gedanken vertreibt.
Anke Leweke in TIP 25/03

 

Selbstfindungsfilm

Ein im wahrsten Sinne des Wortes unaufgeregter Film. Die Figuren erleben zwar durchaus aufwühlende Geschichten, der Zuschauer bleibt davon aber seltsam unberührt. Er schaut ihnen mit Interesse, aber nicht mit emotionaler Anteilnahme zu. So sind die Filme von Rudolf Thome immer: Sie ziehen still und schwerelos an einem vorbei; sie gehorchen seinem Motto, nachdem er Dokumentarfilme über Schauspieler drehe, die Szenen aus einem Drehbuch nachspielen.

Diesmal hat der Drehbuchautor Thome eine 50-jährige Frau in den Mittelpunkt gestellt, die zu den besseren Schichten Berlins gehört und ein sehr normales Eheleben führt. Das Leben plätschert dahin. Bis sie von der Vergangenheit eingeholt wird: Vor 20 Jahren liebte Barbara einen Türken, der verschwand und mit ihm die kleine Tochter. Logisch, dass die Tochter jetzt wieder auftaucht. Sie sucht ihre Mutter, die muss sich nun ihrer Geschichte stellen. Ein Selbstfindungsprozess, den Hannelore Elsner als Mutter und Serpil Turhan überzeugend spielen. Aber der ganze Streifen verharrt stets in zäher Betulichkeit: lauter hübsche Szenen, lauter hübsche Momenmte - mehr gibt die Dramaturgie leider nicht her. Eine weich gezeichnete Milieustudie.
Dirk Pilz in Zitty 26/2003

 

Jeden Tag Sommer

"Rot und Blau": ein Kinomärchen von Rudolf Thome

Rudolf Thomes Welt ist eine Märchenwelt. Sie besteht aus verfallenen Landhäusern, wo Frauen sich an uralte Bäume lehnen und bitten "Erzähl mir vom Leben". Oder aus Dachgeschosswohnungen im Himmel über Berlin, wo der Vater mit dem Sohn Schach spielt und immer verliert. Ein Steg am See darf nicht fehlen, und schöne Frauen jeden Alters und beste Freundinnen, die nebeneinander im Ehebett schlafen, und am Morgen maulen: "Du riechst schlecht aus dem Mund." In Thomes Welt ist immer Sommer.

Bei Thome gibt es Traumaltbauwohnungen für 200 Euro, und Freunde, die den Betrag plus Kaution sofort cash auf den Tisch legen. Überhaupt: Man bezahlt bar, auch wenn es 49.000 Euro für ein silbernes Cabrio sind, und Mädchen reisen mit einem Koffer voller Geld. Man schenkt sich Pfirsichbäume aus italienischen Gärten, die schon die Fahrt von Berlin in die Uckermark kaum überleben, oder Wuschteppiche oder auch einmal einen roten Ferrari, nur einfach so. Und Hannelore Elsner muss die Hälfte des Films mit einem Gipsfuß herumlaufen. Thome nennt es "die Strafe Gottes".

In "Rot und Blau", dem ersten einer Trilogie "Zeitreisen", passiert, was nicht möglich ist: Da trifft ein Computervertreter ein türkisches Mädchen im Zug, und nachher stellt sich heraus, dass es seine Stieftochter ist. Und seine Ehefrau, die vor Frust und Einsamkeit längst den Rotwein aus der Flasche trinkt, begegnet ihrem Jugendfreund wieder und erblüht erneut. Und findet nach zwanzig Jahren ihre Tochter wieder, und die schon aufgegebene Familie wächst neu zusammen. Lauter höchst unwahrscheinliche Zufälle. Aber im Märchen ist das erlaubt.

"Ihr kennt euch?" ist eine häufige Frage in "Rot und Blau". In Thomes Welt kennen sich alle. Auch der Zuschauer kennt viele: Adriana Altaras zum Beispiel, die als italienisch-jüdisch-berlinische Busenfreundin schön exaltiert sich selber spielt. Oder Hanns Zischler, diesmal glatzköpfig, als zwielichtiger Detektiv, dessen Auftrag man nie erfährt. Andere sind neu: Die schmale Serpil Turhan, bekannt aus Thomas Arslans Filmen. Und Hannelore Elsner natürlich, die seit der "Unberührbaren" und "Mein letzter Film" immer reifer, schöner, aber - leider - auch launischer geworden ist. Für "Rot und Blau" spielt sie ein verwöhntes Kind, rücksichtslos, kapriziös. Am Ende fordert sie, die eine verkappte Alkoholikerin spielen soll, ihren Ehemann auf, sich ihr zu Füßen zu legen und zu bekennen: "Ich werde nie wieder zu viel Alkohol trinken." Thome lässt es ihr durchgehen. Wir auch.

Christina Tilmann in "Der Tagesspiegel" 11.12.03

 

Berlin ist eine Insel: Rudolf Thomes "Rot und Blau"

Einmal, 1979, hat Rudolf Thome sich ganz weit aus Berlin herausgewagt und eine Geschichte aus der Südsee erzählt. "Beschreibung einer Insel" handelte von einer Expedition europäischer Ethnologen auf das abgelegene Eiland Ureparapara, von den Schwierigkeiten, Zerwürfnissen, den Glücks- und Lustmomenten einer Fahrt zu den Antipoden. Nach drei Stunden hörte der Film, der ein wenig, aber nicht zu sehr von F. W. Murnaus "Tabu" inspiriert war, dann einfach auf, ohne Schlußakkord oder Epilog. Und dabei ist es geblieben.

Denn Thome hat den Inselblick nach Deutschland mitgenommen, er hat Berlin zu seinem Ureparapara und die Helden und Heldinnen seiner folgenden sechzehn Spielfilme zu Ethnologen ihres eigenen Lebens gemacht. In "Rot und Blau" ist es die Architektin Barbara Bärenklau (Hannelore Elsner), die den Bauplan ihrer Existenz plötzlich nicht mehr versteht. Eben noch war sie erfolgreich, gut verheiratet, Mutter zweier Kinder und Besitzerin eines Landhäuschens, da verfällt sie kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag in Schwermut, verbrennt alte Briefe, betrinkt sich mit ihrer besten Freundin und wartet auf etwas, das ihrem Dasein eine neue Richtung geben könnte.

Zur gleichen Zeit kommt das Mädchen Ilke (Serpil Turhan) mit einem Koffer voller Geld nach Berlin, um seine Mutter zu suchen. Ilke ist, wie sich herausstellt, Barbaras Tochter aus einer lang vergessenen, früh gescheiterten Liebesbeziehung zu einem türkischen Teppichhändler - und der Detektiv (Hanns Zischler), der Ilkes Recherchen organisiert, Barbaras ältester Schulfreund. So nimmt eine Komödie des Wiederfindens, Wiedererkennens, der Mißverständnisse und Versöhnungen ihren berechenbaren Lauf, eine Sommerkreuzfahrt auf die Blumeninsel Westberlin und in den wilden Süden Brandenburgs.

Das alles ist schön anzusehen, wirklich spannend ist es nicht. Und das hat etwas mit der Beziehung des Regisseurs Thome zu den Menschen zu tun, die er zeigt. Denn anders als der Franzose Eric Rohmer, mit dem man ihn oft verglichen hat, blickt Rudolf Thome nie besonders tief ins Innere seiner Figuren; er gibt sich, wie ein Ethnologe, mit äußeren Zeichen zufrieden, mit Gesten, Erklärungen, Ritualen. Darin liegt eine besondere Diskretion, aber eben auch eine Schwäche.
In Thomes Filmen brennt es nie, es brennt höchstens mal etwas an. Die mittlere Temperatur, auf der die Geschichten spielen, macht es den Schauspielern leicht, sich in ihren Rollen wohl zu fühlen, und so sieht man Hannelore Elsner, Hanns Zischler und der graziösen Serpil Turhan gern dabei zu, wie sie durch das Südgelände der Thomeschen Phantasie spazieren. Aber ein Abenteuer, wie man es im Kino erhofft, bieten die Lebensetüden dieser Müßiggänger nicht. Dazu sind sie uns nicht nah genug. Oder nicht weit genug von uns entfernt.

Andreas Kilb in FAZ, 11.12.03

 

Alle Tragödien starten im Gestern

Ein Film von den pastellfarbenen Nöten der Reichen. In Rudolf Thomes Reigen "Rot und Blau" ist Hannelore Elsner der große Trumpf

Einen Moment ist man erschrocken. Ja er hat! Wow! Action! Der Gegner ist mit einem raschelnden Geräusch aus dem Bild gesunken. Gregor hat Samuel niedergestreckt, den Jugendfreund seiner Frau, dessen Pulloverfarben von damals dem Film den Titel "Rot und Blau" geben. Würde der Eifersüchtige den Nebenbuhler jetzt erschlagen, käme richtig Leben in den Film über die Schönen und Reichen. Und ein Knittercoat wie Derrick oder Columbo würde die Ermittlungen leiten. Ein Villen-Inspektor.
Aber Gregor hält inne, muss hinterher nur auf den Boden vor Barbara. "Ich werde nie wieder zu viel Alkohol trinken. Alkohol macht aggresiv." Das sagt er dreimal. Dann lacht Barbara. Und schon schnurrt der Abspann. Ist das eine Versöhnung? Oder der Anfang vom Abschied? Das läßt sich bei der Helligkeit dieses neuen Films von Rudolf Thome nicht feststellen. Das Dunkelste ist der Rotwein in den Gläsern der Schönen und Reichen. Vielleicht noch der (unsichtbare) Abgrund zwischen den Ehebetthälften. Wie tief der ist, bleibt unklar.

Erzähl mir was vom Leben, mir geht's im Moment nicht gut", seufzt Barbara ihren Lieblingsbaum an. Sie ist losgefahren, vor der Datsche alte Dinge zu verbrennen, starrt traurig in die Flammen. Hannelore Elsner ist Schönheit in Reise mit Bitternis in den Mundwinkeln. Dieser ganz wundervollen Wechselbadenden der Gefühle zuliebe beginnen wir die mediterrane Leichtigkeit des luxuriösen Seins in Grunewald zu mögen. Musik hat man in diesen Film tonweise hineingetupft, das Klavier plinkt, die Gitarre maunzt.

Tragödien im Gestern
"Zeitreisen" hat Thome den Auftakt einer Trilogie untertitelt. Barbara ist die Reisende in die Vergangenheit, sie wird Verdrängung verdrängen, den alten Freund wiedertreffen, der als Detektiv für ihre Tochter Ilke aus erster Ehe arbeitet, die sie auch 20 Jahre nicht gesehen hat. Unerwartete Begegnungen gibt es auch sonst, wie schicksalshaft sie werden, lässt der Regisseur offen. Die Elsner ist stark und fragil zugleich und hat ein Gesicht, über das in Sekundenschnelle vielerlei huscht. Ein glaubwürdiges Gesicht. Nicht immer glaubt man ihr indes die Worte: "Wenn mich Geld je interessiert hätte", sagt sie etwa, "wäre ich ihm (ihrem ersten Mann) nachgelaufen, hätte mich auf die Knie geworfen, damit er mich wieder nimmt." Und dann wünscht sie sich von ihrem Rotblau nur einen Ferrari. Und der bringt zum 50. Geburtstag einen vorbei. Tolle Autos und tolle Häuser sind halt schon wichtig. Geld interessiert Barabara blpß nicht, weil sie nicht mehr merkt, dass sie wahnsinnig viel davon hat.

Alle Tragödien liegen im Gestern, die aktuellen Konflikte scheinen lösbar, der Film fließt licht, klar und heiter wie ein Maibach durch uns hindurch. Man fragt sich zwar, wie es unter der Oberfläche einer Frau gestürmt haben mag all die Jahre, nachdem ihr Kind weg war. Aber man sieht nur die Etappen emotionaler Annäherung, wie sie und Ilke lernen, sich halbwegs wie Familie zu fühlen.
Thomes Filme ziehen keine Massen, schweben leicht neben dem mal kriselnden, mal sich beklatschenden deutschen Großkino. Er sagt uns hier, dass die Schönen und Reichen neben einem Audi TT auch Seele und Nöte haben. Howard Hawks und Budd Boetticher sind seine Regiehelden. Hinterher hat man das Bedürfnis nach einem Glas Rotwein.

Matthias Halbig in Neue Presse, Hannover 9.1.2004

 

Präzise Komödie des Missverstehens

Barbara (Hannelore Elsner) soll zum ersten Mal ihrer Tochter begegnen, die sie vor Jahren beim Vater zurückließ. Heute ist Ilke erwachsen, will nun mit der Vergangenheit reinen Tisch machen, die Mutter finden. Am Anfang hat man Ilke im Zug gesehen, auf der Fahrt nach Berlin. Dort begegnet sie einem Mann, der sich später als Barbaras Gatte entpuppt.
Konstruiert? Mag sein. Aber bei Hitchcock, Hawks, Lubitsch, den ganz Großen also, findet man derartige Konstruktionen in jedem Film. Und sie sind es, an denen Rudolf Thome Maß nimmt - was ihn selbst zu einem der wenigen macht, die man künstlerisch ernst nehmen muss im deutschen Kino.
Wie die meisten Filme von Thome spielt auch dieser in einer Welt, die ganz präzis gezeichnet und doch märchenhaft ist. Mit "Rot und Blau" beginnt Thome eine Trilogie, die er "Zeitreisen" getauft hat und in der Hannelore Elsner jeweils die Hauptrolle spielt. Als Barbara verkörpert sie eine Frau, die plötzlich ihr eigenes Leben nicht mehr versteht. Die Komödie des Missverstehens und Wiederfindens, die nun beginnt, ist nur Teil der größeren Comédie Humaine, die Thomes eigentliches Thema ist. Darin wie auch in der Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit seiner Erzählweise und dem Hang, seine Filme zu Reihen zu ordnen, ähnelt Thome den französischen Meistern, vor allem Rohmer. Das ist nicht nur schön anzusehen, es ist auch spannend. Selten ist Kino so sehr ein Blick in den Spiegel und ganz Gegenwart.
Hervorragend
rsl in Münchner Merkur 16.1.04

Vom Baum gefallen, Fuß verstaucht, Fehler gemacht, Glück gehabt, Liebe genossen… Barbara (Hannelore Elsner) witd gerade 50 und erhält unerwartet Besuch von ihrer Tochter Ilke (Serpil Turhan), die bei der Trennung vor 20 Jahren zu ihrem türkischen Vater zog. Zuvor muss jedoch ein Privatdetektiv (Hanns Zischler) der lebensklugen Ilke erst einmal helfen, ihre Mutter zu finden. Der erweist sich als Barbaras Jugendfreund und allererste Liebe, der sich damals um sie sorgte, als sie vom Baum gefallen war - und einen rot-blau gestreiften Pullover trug, an den sie sich noch vage erinnern kann. Rudolf Thomes tragikomischer, wunderbar leichter Wiedersehensfilm "Rot und Blau" spielt in Berlin, am Wannsee, irgendwo draußen im märkischen Sand in einem schönen Wochenend-Chalet, wohin sich Barbara immer dann zurückzieht, wenn der Lebenskriselei zum 50sten Einhalt zu bieten ist. Wenn ungute Erinnerungen, Trauer, ein schlechtes gewissen, vielleicht, mit ein paar Flaschen Rotwein, dem Trost der besten Freundin und etwas pyrotechnischem Geschick in leicht dramatischem Rauch aufgelöst werden könnten. Thome at his best, Paraderolle für die Elsner, ein deutsches Hinschau- und Zuhör-Movie, verspielt, amüsant, überaus ernst, ganz ohne erdenschwere - mit Gesang, Rührung, Pathos und Familienfesten.
In München, 8.1.04

 

Alle bleiben auf dem Teppich


In "Rot und Blau" spinnt der fleißige Rudolf Thome seine sanften Beziehungsgeschichten fort

Seit vierzig Jahren dreht Rudolf Thome sanfte, etwas verschlungene Filme über das Paarverhalten verunsicherter Großstädter. Das war manchmal unfreiwillig komisch, denn die Dialoge raschelten, die Schauspieler hielten sich steif an ihr Konzept, die Banalitäten des Alltags wurden eins zu eins vor der Kamera abgespult. Jetzt in der späteren Phase seines Schaffens, geht der inzwischen 65-jährige Thome sichtlich lockerer mit seinem immer gleichen Material um. Lose verknüpfte Szenen und ein gedämpft netter Umgangston verhindern dramatische Auswüchse; die Erwachsenen sehen zu, dass sie ihre Seelennöte in Schach halten und die Jungen warten sehnlichst, dass ihnen auch mal die Liebe über den Weg läuft.

So hat das Personal von "Rot und Blau" zumindest äußerlich nur mehr wenig zu kämpfen. Die Zufälle des Lebens, von Thome lustvoll aneinandergereiht, sind ihnen eigentlich suspekt. An ein Schicksal mögen sie nicht glauben, folglich bleibt Barbara Bärenklau, etablierte Berliner Architektin, die Spucke weg, als ihre Tochter nach einem Unfall zu ihr sagt: "Das ist die Strafe Gottes, weil du dich zwanzig Jahre lang nicht um mich gekümmert hast." Ilke kommt aus der Türkei, ihr verstorbener Vater war ein begüterter Teppichhändler, er hatte Mutter Barbara vor langem verlassen und nahm sein Kind mit.

Das sich anbahnende familiäre Durcheinander, Wiederbegegnung und Annäherung an neue Verhältnisse, zeigt Thome aus beruhigender Entfernung. Leidenschaft ist ausgeträumt, man hat sich eingerichtet in den Annehmlichkeiten einer erfolgreichen Mittelklasse, die zum Weekend auf eine idyllische Datscha fährt, zu viel Wein trinkt und rote Ferraris als Geburtstagsgeschenk in nüchternem Zustand für übertrieben hält. Inzwischen sind es die kleinen, leicht weggewischten Pointen, die bei Thome die abgeklärte Stimmung aufmuntern: Wie Mama Barbara - eben doch durch Zufall - den alten Schulfreund Samuel trifft, wie Ilke ganz en passant heimisch wird bei den fremden Eltern, wie ein ominöser Koffer voller Geld im Garten der Bärenklaus ein sicheres Versteck findet.

Am Schluss feiern alle, ähnlich wie in Thomes "Paradiso - Sieben Tage mit sieben Frauen", Barbaras Wiegenfest an einem herrlichen Sommertag auf dem Land, es wird ein bisschen gesungen und viel geplaudert, dennoch ist ein Eifersuchtsausbruch total lächerlich, auf Grund labiler Konstellationen unvermeidbar. Dich die Dame des Hauses, von Hannelore Elsner hoch sensibel porträtiert, behält die Kontrolle. Die Gäste sollen bitteschön auf dem Orientteppich bleiben, der auf der Wiese ausgerollt wie ein Erinnerungsstück aus ferner Zeit aussieht.

Im Finale zeigt ein Bild der erweiterten Familie, dass in diesen Milieus keine großen Bewegungen mehr stattfinden, selbst wenn unverhofft ein verlorenes Kind aus der Türkei auftaucht. Berlin nimmt sie alle problemlos und ohne Ressentiments auf.

Inge Rauh in Nürnberger Nachrichten, 16.1.04

 

Die Zufälle des Lebens

Hannelore Elsners erster Film mit Rudolf Thome: "Rot und Blau"

Alltagsmärchen. Sie weint, lächelt dabei. Sie umarmt einen Baum, sucht ihre Wurzeln. Sie wirft Dinge aus ihrem Leben ins Feuer, möchte ihre Vergangenheit verbrennen. Die verschuldete Berliner Architektin Barbara Bärenklau (Hannelore Elsner) versucht, mit symbolischen Handlungen während eines Wochenendes in ihrer Datscha vor sich selbst und für kurze Zeit auch vor ihrem Mann, von dem sie nicht mehr weiß, ob sie ihn liebt, zu fliehen. Kurz darauf holt sie ihre Vergangenheit doch ein. Ihre Tochter Ilke (Serpil Turhan) taucht auf. 20 Jahre haben sich die beiden nicht gesehen. Barbaras Mann aus erster Ehe, ein türkischer Teppichhändler, hat sie mit der damals Dreijährigen verlassen.

Rudolf Thome erzählt ein Alltagsmärchen. Dennoch erscheint es wie aus dem leben gegriffen. Trotz aller Zufälle. Denn Tochter Ilke trifft bereits im Zug auf Barbaras Mann Gregor, der von ihr sogar ein Foto macht. Als Ilke in Berlin ankommt, hilft ihr ein Freund ihres Vaters, der Privatdetektiv Samuel (Hanns Zischler), der sich später als Jugendliebe von Barbara herausstellt. Und dann bringt die Tochter viel Geld mit nach Berlin - das Erbe ihres verstorbenen Vaters.

Thomes ruhige Erzählweise lässt den Figuren viel Raum. Sie agieren, als gäbe es keine festen Vorgaben, als wäre alles möglich, und die Kamera hält fest, was sie sich gerade ausgedacht haben: bewegende Momente wie das erste Zusammentreffen zwischen Mutter und Tochter und auch Kleinigkeiten und Einzelheiten - als wollte Thome etwas dokumentieren.

Star des Films ist Hannelore Elsner. Sie macht aus der Barbara ein Wesen voller Widersprüche: Mal ist sie melancholisch, mal frech, mal verunsichert, mal ausgelassen. Es ist die erste Zusammenarbeit zwischen Thome und Elsner, und "Rot und Blau" ist der erste Teil der Trilogie "Zeitreisen". Auch in den beiden folgenden Teilen spielt Hannelore Elsner mit.

Christine Jeske in WÜS, Würzburg 23. 1. 04

 

Sommerlicher Stadtwestern

"Rot und Blau" von Rudolf Thome

Mit einem Koffer voller Geld kommt die junge Ilke (Serpil Turhan) nach Berlin. Sie ist auf der Suche nach ihrer Mutter. Mit Hildfe des Detektivs Samuel (Hanns Zischler) hat sie auch rasch Erfolg und findet Barbara (Hannelore Elsner). Die ist verheiratet, hat zwei weitere Kinder, wird demnächst fünfzig, und ihr Architekturbüro hat schon bessere Zeiten gesehen. Bei der ersten Begegnung mit der Tochter rutscht Barbara aus und bricht sich das Bein. Ilke bezeichnet das nur halb ironisch als „Strafe Gottes“, weil ihre Mutter sich nicht um sie gekümmert habe. Zunächst scheint die Integration der verlorenen Tochter in Barbaras Familie dennoch problemlos zu funktionieren, doch einige Zufälle zerstören deren ohnehin labiles Gleichgewicht.

„Rot und Blau“ ist der Vergangenheitsteil von Rudolf Thomes aktueller „Zeitreisen“ - Trilogie, der zweite Teil „Frau fährt, Mann schläft“ folgt im Herbst. Wie eine Botin aus der Vergangenheit bringt Ilke Erinnerungen an fast vergessene Träume zurück. War Barbara anfangs bestrebt, sich ganz in der Gegenwart einzurichten, sieht sie diese unvermittelt radikal in Frage gestellt. Ihr Ehemann Gregor (Karl Kranzkowski) reagiert verunsichert und beim feucht-fröhlichen Geburtstagsfest auf dem Lande kommt es zum »Duell« um Barbara Bärenklau.

„Rot und Blau“ ist klassisches Kino im Sinne von Jord Ford. Rudolf Thomes Erzählstil stellt mit größter Selbstverständlichkeit abenteuerliche Behauptungen auf. Seine sorgfältige, unprätentiöse Bildsprache und Wolfgang Böhmers zarter Jazz nehmen für seine lässige und auch augenzwinkernde Kunst ein, ja sie verzaubern die Zuschauer. Man darf es sich bei "Rot und Blau" im Kino also bequem machen.

In Frida Grafes Textsammlung zur »Nouvelle Vague« findet sich ein Satz, der auf den magischen Realismus der wunderbar altmodischen Filme Thomes vorzüglich passt: „Das Fiktive, das wie von selbst sich aus der Realität erhebt, wenn Wünsche ausgestattet mit allen Anzeichen der Wirklichkeit, sich materialisieren, das ist Erfindung, wie sie dem Kino ansteht.“

Ulrich Kriest in Stuttgarter Zeitung, 22. 7. 2004